Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
durch einen modernen Anbau mit Doppelgarage. In der ehemaligen Schmiede hatte man eine kleine Gastwirtschaft – eher ein Kiosk als ein richtiges Lokal – eingerichtet. »Zur Tränke« stand über der Tür. Sie war verschlossen.
Pia warf einen Blick in die Reithalle und die Stallungen und rief ein paarmal »Hallo?«, obwohl ihr klar war, dass sich niemand in Hörweite befand. Schließlich fasste sie sich ein Herz und klingelte an der Tür des Wohngebäudes. Aber auch da rührte sich nichts.
Sie war bereits im Begriff, den Hof zu verlassen, als hinter ihr jemand »Wollen Sie zu uns?« rief. Eine knochige, leicht verhärmt wirkende Frau in Gummistiefeln kam um den Anbau herum auf sie zu. »Wie ich das sehe, gibt’s heute keine Probestunden mehr.«
Die Frau trug abgewetzte Reithosen und eine khakifarbene Armyjacke, unter der ein verwaschenes T-Shirt mit Pferdekopf zu erkennen war. »Sie müssen sich sowieso vorher anmelden. Nummer steht draußen auf dem Schild.«
»Nein-nein, ich… Frau Peters, nehm ich an.«
Die Frau nickte und betrat, ohne Pia eines weiteren Blickes zu würdigen, das Haus.
Na reizend. So macht man sich Freunde.
Bevor Pia sich zu einer schnippischen Bermerkung hinreißen ließ, besann sie sich auf ihre gute Erziehung. »Frau Peters, bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Pia Canisius und ich wollte Jonas Romeike abho. . .«
Weiter kam sie nicht.
»Ach, Sie kommen von von diesem Schüler-… Dings?«, fuhr Tamara Peters sie an.
Erschrocken wich Pia einen Schritt zurück. »Teen-Court?«
»Ja. Wie auch immer. Echt keine gute Idee, das Ganze! Wirklich nicht! Hab ich ja gleich gesagt! Schafft nur böses Blut!«
Pia hatte nicht die geringste Lust, mit dieser ruppigen Frau herumzudiskutieren. Ihr lag schon auf der Zunge, so etwas wie »Ich bin privat hier« zu sagen, als sie bemerkte, dass ihr Gegenüber mit den Tränen kämpfte. »Hinterm Haus«, sagte Tamara Peters schließlich und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Anbau, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
»Hinterm Haus« war ein im Wortsinne weitläufiger Begriff: Der Garten erstreckte sich über die gesamte Fläche einer ehemaligen Pferdekoppel und befand sich – der Bepflanzung nach zu urteilen – erst im Anfangsstadium der Gestaltung. Nicht weit vom Wohnhaus entfernt hatten die Peters einen Swimmingpool angelegt.
Am Rand des Pools stand ein Zementmischer, daneben waren hellblaue Fliesen gestapelt. Dahinter standen - halb verdeckt – ein untersetzter älterer Mann und eine junge Frau. Sie beugten sich über etwas, das am Boden lag. Pia hörte, wie der Mann so etwas sagte wie »…überflüssig…« und »…was soll’s?«.
Der Rest war aus der Entfernung nicht zu verstehen.
Schließlich klopfte ihm die Frau beruhigend auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. »Lass ihn doch, Bernhard. Fünfzig bis sechzig Zentimeter tief reicht vollkommen. Alles kein Problem und absolut legal.«
Als die Frau näher kam, entdeckte Pia das rote Abzeichen mit V und Schlangenstab auf ihrem Arztkoffer. Die Tierärztin grüßte Pia mit einem kurzen Kopfnicken und stapfte davon, während der Mann – ohne Pia zu bemerken – über die Terrasse ins Haus ging und die Tür hinter sich zuschlug.
Pia spürte plötzlich einen beinahe unwiderstehlichen Drang davonzulaufen.
Irgendwas ist hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Dann hörte sie es: Ein unterdrückter Klagelaut, gefolgt von trockenem Schluchzen.
»Jonas!« Pia rannte los, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war; dahin, wo vorher der Mann und die Frau gestanden hatten.
Der Junge, der dort am Boden saß, hatte glatte hellbraune Haare und war bis auf die Haut durchnässt. In seinem Schoß lag eine kleine schwarz-weiße Bordercolliehündin mit triefnassem Fell. Bewegungslos. Es dauerte einen Moment, bis Pia aufging, dass sie tot war.
»Oh Gott!« Unwillkürlich schlug Pia die Hand vor den Mund, »ich… ich… oh, Entschuldigung… tut mir leid.«
»Schon okay«, murmelte der junge Mann.
Das muss Lennart Peters sein.
Wahrscheinlich denkt er, ich komm wegen irgendwelcher Reitstunden. Genau wie seine Mutter.
Unschlüssig blieb Pia stehen. Sie brachte es einfach nicht fertig, in dieser Situation zu irgendwelchen Erklärungen auszuholen.
»Sie hieß Nagual«, sagte Lennart Peters, ohne Pia anzuschauen. »Naguals sind so was wie… freundliche Geistwesen. Oder Schutzengel. Nach aztekischem Glauben.« Zärtlich strich er über das nasse Fell seiner Hündin.
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