Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
genau zur Situation passte.
Dann fiel es ihr ein. »Bee Gees. Stayin’ Alive…«, murmelte sie.
Sie hielt den Rhythmus durch: dreimal pressen, zweimal Pause: »Stayin’ alive, stayin’ alive«, pressen, pressen, pressen…
Als die Sanitäter eintrafen, zogen sie sie mit sanfter Gewalt zurück.
»Jetzt lassen Sie uns mal machen«, sagte der eine.
»Mein Gott, der ist ja noch keine zwanzig«, murmelte sein Kollege.
Als Pia das zweite Kapitel aus dem Buch Perlen-Kinder: Boten des Lichts vorgelesen hatte, stellte sie fest, dass Rebecca tief und fest eingeschlafen war.
Erleichtert klappte sie das Buch – eine Art Gebrauchsanweisung für irisierende Wunderkinder – zu und stand auf. Dabei knackte es hörbar in ihrer Wirbelsäule.
«Autsch!«, kommentierte sie den Schmerz in ihrem Nacken.
Sie hatte in den letzten anderthalb Stunden offenbar total verkrampft auf der Bettkante gesessen.
Na ja. Wenn man diesen Schwachsinn liest, wundert einen gar nichts mehr…
»Lasst sie gewähren!«, hieß es in dem Buch. Und: »…die Perlenkinder werden euch knallhart vor Augen führen, auf was für einer niedrigen spirituellen Stufe ihr alle noch steht!«
Der Autor war auf dem Buchumschlag abgebildet. Er trug ein Hawaiihemd und erinnerte stark an einen Ferienklub-Animateur.
Seine Texte allerdings strotzten nur so von Warnungen, Drohungen und üblen Prophezeiungen für den Fall, dass man den Perlenkindern nicht schon von der Wiege an ihren Willen ließ. Und sollte der unspirituelle Rest der Welt – zum Beispiel in Gestalt von Lehrern und Mitschülern – sich wagen, irgendetwas kritisch anzumerken – zum Beispiel mangelnden Leistungswillen oder unsoziales Verhalten –, dann sei das lediglich ein Zeichen mangelnder Erleuchtung.
Natürlich aufseiten der nicht-irisierenden Normalos!
Pia feuerte das Buch in ein halb leeres Regalfach, ging hinunter ins Parterre und machte sich heißhungrig über die frisch gebackenen Quarkkeulchen her.
Der Kaffee war nur noch lauwarm, aber er erfüllte seinen Zweck.
Wieder einigermaßen wach und aufnahmefähig rief Pia endlich – wie versprochen – bei Nele an.
»Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber ich bin hier bei Rebecca…«
»Ja, hab ich gehört. Von Mama. Sag mal, tickst du nicht richtig?!«
»Na jaaa. Es geht ihr natürlich beschissen nach allem, was in den letzten Tagen abgelaufen ist.«
»Ja und? Ich denke, sie ist so ’ne Art Engelchen from outer space. Da hat sie doch bestimmt ’ne Menge irisierender Freunde und Helferlein, die ihr zur Seite stehen.«
»Quatsch! Du weißt genau, dass das alles Hokuspokus ist! Und damit, sich als ’ne Art Heilige hinzustellen, macht man sich nun mal keine Freunde.«
»Und wieso bist du dann für die Tussi zuständig? Erst jaulst du mir monatelang vor, dass sie dir mitsamt ihrer abgedrehten Mutter schwerstens auf die Nerven geht, und dann machst du plötzlich einen auf beste Freundin?!«
»Immerhin hab ich auf die Weise ’n bisschen was rausgefunden. Ich meine: so langsam wird mir klar, warum Rebecca so ist, wie sie ist.«
»Na prima! Da sind wir jetzt aber alle total gespannt! Würde verzogen, eitel, überdreht und völlig ich-bezogen die Sache vielleicht einigermaßen gut umschreiben?«
»Na jaa…«
»Toll! Dann kann ich dich jetzt ja bei der abgedrehten Zaubermaus zu Hause abholen, oder?«
»Wow, echt?« Pia machte einen regelrechten Luftsprung, »Das würdest du wirklich tun?«
»Na ja, Mama hat gesagt, du wolltest heute auch noch mal ins Krankenhaus zu deinem neuen Lover…«
»Neuer Lover? Spinnst du? Wie kommst du denn darauf?!«
»Lover oder nicht: Anschauen kostet nichts, oder?«
»Nele, du bist unmöglich!«
»Ich weiß. Wann soll ich kommen?«
Auf der Küchenuhr war es halb sechs. »Rebeccas Mutter müsste jeden Moment hier sein.«
»Okay. Bis gleich.«
Wenig später kam Therese Matussek nach Hause. Sie wirkte angeschlagen und bedankte sich ungewohnt kühl.
»Rebecca schläft«, sagte Pia. »Gegessen hat sie nichts. Wenn sie aufwacht, wird sie Hunger haben.«
»Ja. Danke noch mal«, murmelte Therese Matussek und öffnete die Haustür.
»Ein paar Minuten noch. Meine Schwester holt mich mit dem Auto ab.« Pia war die offensichtliche Aufforderung zu gehen peinlich.
»Ach so.«
Rebeccas Mutter ließ die Tür wieder ins Schloss fallen und lächelte entschuldigend, aber ihre Augen wirkten leer.
Dann ging sie in die Küche, griff nach einem kalten Stück Gemüsepizza und kaute mit abwesendem
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