Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
eine fast leere Flasche Wodka, unter der – wie ein makaberes Schuldgeständnis – der Kaufbeleg einer Baumarktkette eingeklemmt war: Drahtseil, Karabinerhaken, Handbohrer.
»Mein Gott, der Junge war gerade mal siebzehn…«, murmelte Kommissarin Junghans, als sie mit Böhnisch zusammen das Büro betrat.
»In dem Alter hat unsereins Jerry-Cotton-Heftchen gesammelt und sonntags Der Kommissar geguckt. Das war alles an krimineller Energie«, seufzte Böhnisch und sehnte sich einmal mehr nach seiner Pensionierung. Das Erschütterndste war, dass der Junge noch mal wach geworden war und seinen Entschluss dann offenbar bereut hatte.
»Die Dinge fangen an, mir aufs Gemüt zu schlagen«, brummte er, »und das ist gar nicht gut.«
15
Pia gab der Venusfliegenfalle ein paar Tropfen Regenwasser und entfernte die verblühten Stängel des Sonnentau.
Es war das erste Mal, dass Lennarts Mutter sie in das Zimmer über der Garage begleitete.
Sie ließ sich von Pia die ein oder andere Eigenart der verschiedenen Pflanzen erklären, aber ihr nervöser Griff nach dem Zigarettenpäckchen ließ erkennen, dass das nicht der Grund für ihre Anwesenheit war. Offenbar hatte Tamara Peters etwas auf dem Herzen.
»Meinen Sie, wir sollten es ihm sagen?«, fragte sie schließlich befangen.
»Das mit Jonas’ Selbstmord?«
Tamara Peters nickte. »Mein Mann und ich haben hin und her überlegt, was wohl das Beste wäre. Aufregung tut Lennart im Moment überhaupt nicht gut. Andererseits: Vielleicht ist es ja für ihn eine Erleichterung zu hören, dass der, der ihm das angetan hat, nicht damit leben konnte.« Sie hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Ich weiß einfach nicht, was richtig ist! Sehen Sie, Pia, wir kennen unseren eigenen Sohn viel weniger, als wir dachten. Komisch, dass uns das erst auffällt, nachdem er beinahe…«
Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und kämpfte vergeblich gegen die aufsteigenden Tränen.
Pia wusste auch so, was gemeint war. »Frau Peters, ich…«
»…Tara. Eigentlich Tamara. Nach Tamara Jagellovsk. Raumpatrouille. Meine Eltern haben Westfernsehen geguckt.«
»Aha…?« Pia hatte keine Ahnung, wovon die Rede war.
»War so ’ne Kosmonautenserie. Als es im Westen schon zwei Sender gab und im Osten nur den einen.«
Tamara Peters lächelte, und Pia war froh, dass das kleine Geplänkel dafür gesorgt hatte, dass ihr Tränenfluss versiegte. »Hier auf dem Hof sagen jedenfalls alle Mara und Du.«
»Okay, Mara…« Pia stockte. Eigentlich wollte sie Tamara Peters sagen, dass sie im Grunde gar nichts über Lennart wusste. Dass sie vor seinem Unfall nur zweimal kurz mit ihm gesprochen hatte. Und danach…
Trotzdem kommt es mir so vor, als ob wir uns schon ewig kennen.
»Was ich sagen wollte«, setzte Pia, verwirrt von den eigenen Gedanken, erneut an, »wir wissen im Moment doch eigentlich noch nichts Genaues. Nur das, was in der Zeitung steht. Vielleicht hat sich Rebecca Matussek ja einfach nur ein bisschen interessant machen wollen. Vielleicht hat sie ja nur ’ne Show abgezogen, um im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht hat sie Dinge erzählt, die gar nicht stimmen.«
»Kann sein. Vielleicht.« Lennarts Mutter klang nicht überzeugt. »Aber warum hätte der Junge sich umbringen sollen, wenn er unschuldig ist? Das macht doch überhaupt keinen Sinn.«
Pia zweifelte selbst an ihren Worten. Aber ihr war jeder Strohhalm recht, an den sie sich klammern konnte, um Jonas’ Schuld zumindest so lange infrage zu stellen, bis der Fall offiziell abgeschlossen war.
»Und was ist mit diesen Alsfelds? In der Zeitung stand…«
»Ach was!« Tamara Peters winkte ab und schüttelte den Kopf, »dummes Journalistengeschwätz! Die von Alsfelds sind steinreich. Und ein Verkauf hätte womöglich ein Vielfaches von dem gebracht, was die Versicherung für Finesse zahlen muss. Ganz zu schweigen von einem Fohlen.«
»Ganz ehrlich, Mara, ich kann mir nicht vorstellen, dass Lennart so was wie Genugtuung oder sogar Freude dabei empfinden würde zu erfahren, dass Jonas tot ist.«
Tamara Peters nickte stumm.
»Ich auch nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich stell mir vor, wie Jonas’ Eltern zumute sein muss. Es ist schlimm genug, wenn man plötzlich feststellen muss, was man alles versäumt hat, wenn…«, sie schluckte und drohte erneut in Tränen auszubrechen, »…wenn so was wie mit Lennart passiert. Aber nichts mehr tun können, nichts mehr sagen können und nichts wiedergutmachen können?
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