Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
darauf gestürzt, dass »neuerdings Jugendliche über Jugendliche zu Gericht sitzen« und »fatale Fehlurteile fällen« durften. Natürlich hagelte es dutzendweise Anrufe gleichermaßen empörter Hörer.
Wortlos riss Fabian ein Stück Haushaltspapier von der Küchenrolle und reichte es Pia.
»Er… ich meine Jonas… er hat sich… mir gegenüber… ehrlich gesagt… nicht gerade toll verhalten«, brachte sie stockend hervor, »und… und… deshalb…«
»Deshalb schämst du dich, wenn du irgendwas Böses von ihm denkst«, vollendete Fabian ihren Satz. »Weil du so was wie kleinliche Rachegedanken nicht in Ordnung findest.«
Pia nickte.
»Vergiss es, Pia. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Soweit ich die letzte Radiomeldung verstanden habe, ist mittlerweile erwiesen, dass Jonas die Stahlseile über den Reitweg gespannt hat. Außerdem: Wieso sollte er abhauen, wenn er unschuldig ist?«
»Ich weiß es nicht, Fabi!« Pia hob hilflos die Schultern. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll! In meinem Kopf ist ein riesiges Durcheinander.«
Die beiden tranken eine Zeit lang schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, ihren Tee.
»Wieso bist’n du heut eigentlich nicht in der Schule?« fragte Fabian nach einer Weile.
»Krankenbesuche«, sagte Pia. »Gleich zwei.«
»Na, ist doch toll. Das lenkt dich wenigstens ein bisschen ab.«
Ach, Fabi, wenn du wüsstest…
Es war zehn vor drei, als Pia in Plaußig ankam.
Therese Matussek hatte bereits auf sie gewartet. Sie war sichtlich nervös und verzichtete Gott sei Dank auch diesmal auf das nervige »Piiiia«.
»Na endlich!«, stieß sie stattdessen hektisch hervor, als sie die Tür öffnete.
»Aber wir hatten doch Punkt drei ausgemacht!«
»Jaja, nur… ich bin immer gern ein paar Minuten vorher im Wartezimmer. Ich hab solche Angst vor’m Zahnarzt.«
Verstehe, dachte Pia schadenfroh, da nützt auch deine tolle lila Aura nichts.
In der Tür drehte Therese Matussek sich noch mal um. »Essen ist im Herd. Es kann eine Weile dauern. Du weißt ja: als Kassenpatientin…«
»Schon in Ordnung«, murmelte Pia genervt.
Selbst wenn es um einen Zahnarztbesuch ging, musste Rebeccas Mutter offenbar einen Riesenwirbel machen.
»Sei lieb zu Becky, ja? Und reg sie nicht auf! Und bitte nichts zu dieser schrecklichen Geschichte mit Jonas! Am besten sprichst du mit ihr über was ganz anderes! Oder lies ihr was Schönes vor!«
Jaja! Ich werd’ schon auf dein kostbares Wunderkind aufpassen! Und wenn’s ein Leben nach dem Tode gibt, bringt mir das mindestens achtundsiebzig Karmapunkte ein!
»Tschüss, Pialein!«
»Tschüss, Frau Matussek!«
Während Pia an Rebeccas Bett saß und ihr die verquasten Texte eines Geistes namens Aeraton vorlas – dem Coverbild zufolge »gechannelt« von einer auf Zwanzig operierten Rentnerin aus Illinois –, wurde Lennart Peters zurück in sein Krankenzimmer gefahren.
»Ach, übrigens: Ich soll dir ausrichten, dass sie noch mal wiederkommt«, sagte der Pfleger.
Lennart hob in einer fragenden Geste die Hand.
»Keine Ahnung, wie sie heißt. Deine Verlobte halt.«
Die Hand machte eine vage Bewegung und der Pfleger zog mit ironischem Grinsen eine Augenbraue hoch. »Kannst dich vor Verlobten nicht retten, was? Nicht die mit den Hippieklamotten. Die mit der schrillen Brille.«
Die Hand sank – wie der Pfleger fand: sichtlich erleichtert – auf die Bettdecke zurück, und in Lennart Peters’ Gesicht deutete sich ein Lächeln an.
»Ihr seid die erhabenen Retter der Welt«, las Pia, »ihr seid zum Wohle des Planeten auf die Erde herabgestiegen und ihr seid von uns erleuchteten Dienern des göttlichen Willens unendlich geehrt und geliebt.«
Rebecca lag mit geschlossenen Augen im Bett und lauschte andächtig.
Pia war fassungslos. »Glaubst du wirklich, die himmlischen Heerscharen suchen sich ’ne botoxgespritze Seniorenbarbie als Sprachrohr, um die Menschheit zu retten?«, fragte sie.
»Auch Jesus wurde zu Lebzeiten verkannt.«
»Ich kenn mich in der Bibel nicht so aus, aber soviel ich weiß, hat der jedenfalls nicht seitenweise schwülstige Lobhudeleien auf seine Jünger losgelassen.«
»Aeraton sagt, dass viele Menschen uns missverstehen und anfeinden werden. Aber wir Perlenkinder erkennen einander.«
»So, wie du Jonas erkannt hast?!«
Pia biss sich auf die Lippen. Sie hatte Therese Matussek versprochen, Rebecca nicht aufzuregen. Aber sie konnte sich angesichts der Selbstbeweihräucherung, die diese
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