Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
aufzuspringen und lauthals »Was reden Sie denn da für einen Unsinn?!« zu rufen.
Jonas war weder einsam noch unverstanden noch ungeliebt! Es muss doch irgendeine bessere Erklärung geben für das, was er getan hat!
Nele griff nach Pias Hand und hielt sie wie in einem Schraubstock gefangen; so, als habe sie ihre Gedanken erraten. »Der will sich einfach nur Stress ersparen«, wisperte sie. »Die alten Griechen haben geglaubt, die Toten könnten sich irgendwie rächen, wenn man was Schlechtes über sie sagt.«
»Es waren die Römer«, korrigierte Christian, »de mortuis nil nisi bene.«
»Egal.« Nele zuckte die Achseln. »Der Typ da vorne ist einfach nur ätzend.«
Mitten in die von Klischees und leeren Phrasen nur so strotzende Rede platzten zwei weitere Trauergäste: Rebecca, wie immer ganz in Weiß, ein Kränzchen Vergissmeinnicht in den Händen, und ihre Mutter in Dunkelviolett und mit Sonnenbrille.
Der Redner räusperte sich und wartete, bis die beiden Platz genommen hatten. Als er »…nehmen wir in tiefer Trauer Abschied von Jonas Romeike…« sagte, schluchzte Therese Matussek hörbar auf.
Beim Verlassen der Kapelle sprachen nur wenige der Anwesenden den Romeikes ihr Beileid aus. Rebecca ließ es sich nicht nehmen, Jonas’ Eltern empathisch zu umarmen.
Ein Pressefotograf hielt sich diskret im Hintergrund und machte Fotos.
Pia beschränkte sich auf einen kurzen Händedruck und stürmte zum Parkplatz.
Als Christian, den Friedhof und das Völkerschlachtdenkmal hinter sich lassend, in Richtung Innenstadt preschte, legte Pia erschöpft die Stirn ans Wagenfenster, und während die Bilder dieses geradezu unbändig schönen Sommertags an ihr vorbeizogen, lösten sich endlich die ungeweinten Tränen.
16
Eines der Fotos vor dem Krematorium erschien am nächsten Tag im Leipziger Anzeiger: »Selbsttötung gibt nach wie vor Rätsel auf…«, hieß es – nicht gerade pietätvoll – im dazu gehörigen Artikel, »…obwohl der tödliche Giftcocktail dem Siebzehnjährigen zweifelsfrei nicht gewaltsam eingeflößt wurde.«
Ein kleineres Foto zeigte das Innere jener Jagdhütte, in der Jonas sich versteckt gehalten hatte.
Die Einrichtung stammte eindeutig aus den Sechzigerjahren: Ein abgewetzter Cocktailsessel mit Schottenkaro-Bezug, davor ein Couchtisch, auf dem sich eine Schnapsflasche und eine bauchige Thermoskanne befanden. Jonas’ Rucksack lag geöffnet daneben und seine Samtjacke lag vor dem Tisch auf dem Fußboden.
Irgendetwas irritierte Pia an dem Bild, aber sie konnte sich nicht erklären, was es war.
»Die Frage nach der Herkunft der Medikamente sei nach wie vor offen, erklärte Kommissar B. von der hiesigen Mordkommission.«
Pia überlegte stundenlang, ob Jonas sich vielleicht bei seinem Besuch in der Klinik die tödlichen Tabletten besorgt hatte; womöglich einfach wahllos von den Nachttischen gestohlen. Vielleicht hatte er Lennart sogar von seinen Selbstmordplänen erzählt und Lennart hatte das Ganze hilflos geschehen lassen müssen.
Andererseits… Das hätte er mir doch irgendwie zu signalisieren versucht.
Aus Angst vor einem neuerlichen Rückschlag verwarf Pia den Gedanken, Lennart auf Jonas’ Besuch hin anzusprechen, und nach reiflicher Überlegung war sie davon überzeugt, dass das mit dem Medikamentendiebstahl nur ein Hirngespinst war. Und ansonsten war Jonas’ Auftauchen in der Klinik für die Polizei ja nicht von Bedeutung. Jedenfalls nicht für die Ermittlungen, die Jonas’ Todesumstände betrafen.
Cum mortuis larvae luctantur. Lasst die Toten ruhen.
Am Ende verwarf sie den Gedanken, zur Polizei zu gehen.
Ein paar Tage später fand die nächste Teen-Court-Sitzung statt. Katja, Laura, Patrick und Marlon waren ebenso gedrückter Stimmung wie Fabian.
»Mensch, das hat doch keiner ahnen können…«, versuchte Laura Marlon zu trösten.
»Trotzdem! Ich bin auf die Idee mit dem Stalldienst gekommen! Und wenn das nicht gewesen wäre…«
»…dann hätte Jonas sich auf irgendeine andere Art an Lennart Peters gerächt!«
»Wie geht’s denn deiner Freundin mit der ganzen Sache?«, fragte Fabian.
»Welcher Freundin?«
»Na, du hast doch gesagt, Jonas wär der Lover von deiner Nachhilfeschülerin.«
»Deshalb ist sie noch lange nicht meine Freundin! Aber wie soll’s ihr schon gehen, nach all dem, was passiert ist? Und ich glaube, ihre Mutter macht das Ganze noch schlimmer.«
»Was? Wieso das denn?«
»Ich weiß nicht, aber die Frau ist irgendwie nicht ganz richtig im Kopf!
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