Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
haben, und vom Drehbuchschreiber einen schnellen Tod verordnet kriegen. Zoe bekommt Hunger, aber sie will nicht von der Bank weg. Irgendwann am frühen Abend ruft sie ihre Mutter an.
»Ich wollte Dir nur eben Bescheid sagen, damit du dir keine Sorgen machst. Ich bin mit Carl noch im Naturkundemuseum. Wir müssen in zwei Wochen so ein blödes Referat halten, aber die haben hier ganz coole Sachen. Wir wollen das gleich bei ihm noch ein bisschen sortieren. Es wird also später. Ich esse da noch zu Abend.«
»Zoe?« Die Stimme ihrer Mutter klingt traurig und matt.
»Was ist denn? Man darf hier eigentlich nicht telefonieren …«
»Montags haben Museen geschlossen.«
Zoe drückt auf den roten Hörer, ärgert sich kurz über den blöden Fehler, aber nach dem Anflug des Ärgers kommt kein Gefühl mehr. Soll ihre Mutter doch denken, was sie will. Nein. Soll ihre Mutter ruhig Angst haben, sich Sorgen machen. Sie selber hat jahrelang mit den gemeinsten Gefühlen gelebt. Und ihre Mutter hat nichts getan, um diese Gefühle aus ihrer Seele zu kratzen. Dabei hätten doch wenige Worte gereicht, um das Licht in ihr wieder anzuknipsen. So musste Zoe Jahre durch die Dunkelheit in ihrem Kopf schleichen. Sie beobachtet weiter die toten Fenster von Enyas Wohnung. Alle sind geschlossen. Ungewöhnlich bei den sommerlichen Temperaturen. Sie erinnert sich an ihren ersten Besuch bei Enya Alt. Da waren die Fenster weit geöffnet gewesen. Vorm Wohnzimmer steht ein riesiger Baum, dessen Zweige fast in den Raum ragten. Zoe stellt sich die schlechte, aufgewärmte Luft in den Räumen vor. Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen. Es muss stickig sein in der Wohnung. Das passt nicht zu der frischen jungen Lehrerin. Zoe stellt sich vor, dass diese wirklich krank ist und den ganzen Tag in der verbrauchten Luft liegt, wie die Haare verschwitzt am Kopf kleben, Schweißgeruch sich mit dem Aroma von Gesundheitstees vermischt. Ganz kurz stellt sie sich vor, dass sie klingelt und die Lehrerin ihr unter Schmerzen aufmacht. Sie würde erstmal die Fenster aufreißen, das Bett frisch beziehen, eine Suppe kochen. Sie würde helfen. Die Bilder vergehen nach einem Moment. Natürlich wird sie das nicht machen. Mittlerweile hält bestimmt der zwanzigste Bus vor ihr, spuckt Menschen aus, die von der Arbeit nach Hause kommen, sich auf den Garten, Balkon oder nur ein kühles Getränk freuen. Viele telefonieren, manche lesen gerade grinsend eine Textnachricht. Als ihr eigenes Telefon klingelt, geht sie ran. Alleine schon, um auch mal mit jemandem zu reden. Zu spät sieht sie, dass es ihr Vater ist.
»Du kommst jetzt nach Hause, Zoe. Jetzt. Sofort.«
»Gut«, sagt sie, ist davon aber nicht wirklich überzeugt.
Näher am Abgrund
S ie weiß gar nicht, warum, aber sie setzt sich zu ihren Eltern auf die Terrasse. Sie schafft es jetzt nicht, sofort in ihr Zimmer zu gehen, wieder alleine mit ihren Gedanken zu sein. Ein Streit mit ihren Eltern bringt ihre Gedanken vielleicht in eine andere Richtung. Angst vor der Auseinandersetzung hat sie nicht. Sie spielt ihr bekanntes Spiel: Was wäre das Schlimmste, das mir passieren könnte?
Falls ihre Eltern jetzt wirklich die Schnauze voll von ihr haben, könnten sie sie vielleicht in ein Internat abschieben wollen. Zoe muss nur ganz kurz überlegen. Die Vorstellung kann sie nicht schocken. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht. Ganz neu anfangen. Ganz neue Menschen. Menschen, die sie nicht kennen. Für die sie ein unbeschriebenes Blatt ist. So wie jetzt oft für sich selber. Sie müsste nichts beweisen. Sie müsste niemand sein. Aber vielleicht wäre sie auch niemand. Eine Verlassene. Auch von sich selbst. Sie lässt sich in den Stuhl fallen.
»Es geht dir nicht gut, oder?« Sonja Kessler guckt ihre Tochter bei der Frage nicht an.
»Weißt du, was lustig ist? Egal ob ich jetzt ›ja‹ oder ›nein‹ sage, es heißt dasselbe«, sagt Zoe in die Dämmerung.
Sonja Kessler guckt jetzt doch, legt den Kopf leicht schief.
»Na ja. Die deutsche Sprache ist da seltsam. Wenn ich ›ja‹ sage, heißt das: Ja, es geht mir nicht gut. Wenn ich ›nein‹ sage, heißt es: Nein, es geht mir nicht gut. Also. Es geht mir so oder so nicht gut. Lustig, was?«
»Sehr lustig«, sagt Sonja Kessler leise.
»Stimmt, es geht mir nicht gut«, sagt Zoe nach einer Weile. »Aber das kenne ich ja schon«, fügt sie an.
Es legt sich wieder Schweigen über den Tisch. Zoe geht in Gedanken wieder zu Enya Alt. Ob die Fenster noch immer zu sind? Ob
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