Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
bisschen peinlich gewesen. Er fand das einfach kindisch und einfallslos. Öde einfach. Als sich die anderen Jungs aus dem Block mit ein paar Bier eindeckten, hatte er sich verabschiedet. Alk war nicht seine Droge. Niemand hat dazu je eine komische Bemerkung gemacht. Das würde keiner wagen. Der Boden am See riecht nach beginnendem Frühling. Carl zieht seinen Aufbruch ein bisschen hinaus. Er weiß, zu Hause riecht es nach abgestandener Luft, nach verbrauchtem Leben, nach den Turnschuhen seines kleinen Bruders und den Zigaretten, die der heimlich auf dem Klo raucht. So heimlich wie man in einer kleinen Wohnung rauchen kann, in der eine Mutter unermüdlich mit Lauge und Duftspray versucht, Sauberkeit zu imitieren.
Carl dreht den iPod ein bisschen lauter. Er ist ein Abschiedsgeschenk eines ehemaligen Mitschülers. Vielleicht ein nicht ganz freiwilliges Abschiedspräsent. In Gedanken geht er seine neuen Mitschüler durch. Die meisten findet er definitiv nichtssagend. Einfach überflüssig. Genau wie die Typen in seiner alten Klasse. Nur besser gekleidet. Oder zumindest teurer. Ein paar von den Mädels in der neuen Schule könnten interessant sein. Auch wenn die wesentlich spießiger und braver angezogen waren als in der Gesamtschule am Block. Aber er steht auch gar nicht auf Tussis, die mit kurzem Rock und tiefem Ausschnitt durch die Gegend wackeln. Manchmal war er richtig angewidert von dem ganzen Fleisch, das ihm optisch angeboten wurde.
Carl will überhaupt nichts, was ihm angeboten wird. Nichts, was er kampflos haben kann. Wo bleibt denn da der Reiz?
Zoe liegt im Bett und schaut die Sterne an. Sie war sechs oder sieben als sie die Leuchtsterne unter die Decke geklebt hat. Zusammen mit ihrem Vater. Der hatte ihr erzählt, dass er das Sternbild des kleinen Wagens nachgebildet hätte. Es dauerte eine Weile, bis Zoe gemerkt hat, dass das gar nicht stimmte. Ihrem Vater hat sie bislang nicht gesagt, dass sie seine kleine Lüge enttarnt hat. Das Summen in ihrem Kopf, das Kribbeln in den Händen und Füßen hat mit dem Anruf bei den Nachbarn aufgehört. So wie Fieber bei Wadenwickeln runtergeht. Trotzdem kann sie nicht schlafen. Als sei sie randvoll mit Adrenalin, das erst ganz langsam wieder abgebaut werden muss. Und weil sie partout nicht einschlafen kann, gönnt sie sich die Erinnerung. Sie geht sehr sparsam damit um. Sie will nicht, dass dieses Bild sich abnutzt. So wie kostbarer Stoff stumpf wird und sich abwetzt, wenn man zu oft drüberstreichelt.
Sie träumt sich in die Jahre vor dieser einen Nacht. In die Zeit vor Franzis Geburt. Zoe war keine Prinzessin. Sie war eine kleine Königin und der kleine König Kalle Wirsch in einer Person. Sie wurde geherzt, beschmust, behütet und bespaßt. Sie war das absolute Wunschkind. Nicht verhätschelt oder verwöhnt. Aber über alles geliebt.
Sie denkt an die Urlaube. Nur Mama, Papa und sie. Sie waren immer in Italien, auf einem Campingplatz. Ihr Vater hat an jedem letzten Arbeitstag unter großem Gebrüll und Gejohle die Krawatte geschwungen, den Anzug ausgezogen, seine Jeans angezogen und verkündet: Die ziehe ich jetzt drei Wochen nicht mehr aus. Das stimmte Gott sei Dank nicht. Aber es waren immer tolle Zeiten. Stefan Kessler hat mit viel Geduld seiner Tochter das Schwimmen beigebracht und auch, wie man Spaghetti aufrollt. Sie haben ständig Flaschenpost geschrieben und die Flaschen über Bord ihres Gummiboots ins Meer geworfen. Sie haben sich quer durch die Gelateria geschleckt, um herauszufinden, welche Sorte denn nun am besten schmeckt. Sonja Kessler ist mit ihrer Tochter bummeln gegangen, hat ihr jedes Jahr einen neuen Bikini und bunte Tücher gekauft. Die sahen zu Hause super-kitschig aus. Aber am Strand in Italien waren sie genau das Richtige. Als Rock. Als Kleid. Als Strandtuch. Als gute Laune aus Stoff.
Wenn es ganz schlimm wird, guckt Zoe sich manchmal die Fotos von damals an. Dieses glückliche Dreigestirn. Papa und Zoe im Pool, Mama und Zoe auf einer Vespa, Mama und Papa im Kerzenschein vor einer Flasche Wein. (Papa hat immer behauptet, sie würden nur trinken, damit die nächste Flaschenpost auf den Weg gebracht werden könnte.)
Nach Franziskas Geburt waren sie lange nicht in die Ferien gefahren. Zoe hat es fast nicht ertragen, wenn ihr Vater nach dem letzten Arbeitstag nach Hause kam und wortlos ins Schlafzimmer ging, um sich umzuziehen. Sie haben viel unternommen. Tagesausflüge. Shoppingtouren. Einmal war sie nur mit ihrem Vater für ein Wochenende am
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