Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
hinten im Schrank und kommt freudestrahlend mit einer CD zurück.
»Was kriege ich dafür?«, grinst sie ihre Tochter an.
»Du hast den Song auf CD? Wie geil! Her damit.«
»Ich habe noch viele gute CDs. Kannst ja mal reinhören.«
Zoe lacht laut, aber nicht zu gemein. »Mama, wir haben nicht wirklich den gleichen Musikgeschmack. Deine Liedermacherfrauen sind nicht so ganz mein Fall.«
»Nicht jede Frau, die auf Deutsch singt und nicht schlagermäßig verstrahlt ist, ist eine Liedermacherin.«
»Klar. Und Schokolade macht nicht dick.«
Endlich hält Zoe die CD in den Händen. Die Band heißt Moloko , ihr Song ist die Nummer 7 . Time is now . Der Titel passt ja sogar. Jetzt ist die Zeit gekommen. Zoe spürt, dass das für sie mehrere Bedeutungen hat. Sie steckt sich die Ohrstöpsel rein und dreht auf. Die Bässe knallen in ihrem Kopf. Sie sind hart, schwer, dunkel. Dazu die leicht schleppende und gläserne Stimme der Sängerin. Sie kriegt eine Gänsehaut, wiegt sich zu der Melodie. Das ist genau, was sie gesucht hat. Das Lied ist eher einfach – nicht schlicht. Es hört sich an wie ein Kampf. Sie sieht vor ihrem inneren Auge, wie die Tänzer aufeinander zugehen, sich wieder entfernen, sich angreifen. Die Farbe wird dann zur Waffe. Sie greift spontan zum Telefon, spielt den Song Saskia am Telefon vor.
»Ja, ganz okay«, sagt Saskia und klingt nicht halb so begeistert wie Zoe.
Zoe lässt sich nicht enttäuschen. Wahrscheinlich war Saskia gar nicht richtig bei der Sache. Immer und immer wieder drückt Zoe auf die Nummer sieben . Sie ist glücklich. Als sie ihre Mutter später am Kühlschrank trifft, gibt sie ihr spontan einen Kuss auf die Wange. In der Tür dreht sie sich noch mal um.
»Du wolltest doch wissen, was du für die CD bekommst?«
»Stimmt. Und?«
»Wie wäre eine Eins in der Mathearbeit?«
Ihre Mutter lächelt breit, geht auf Zoe zu und drückt sie kurz.
»Du bist so hübsch und gleichzeitig so klug. Was soll nur aus dir werden?«, lacht sie.
In der Höhle
D ie gute Laune überlebt den nächsten Tag nicht. In der Schule versucht Zoe vergeblich, die Anwesenheit von diesem Carl zu ignorieren. Versucht Berliner Luft zu spielen. Man tut so, als würde man jemanden einfach nicht sehen. Doch sie muss ihn gar nicht sehen. Sie spürt ihn. In Philosophie verstrickt sie sich in ein Streitgespräch mit dem Lehrer. Es geht um das Höhlengleichnis von Platon, das Zoe abgrundtief unlogisch findet.
Zuhause verbreitet Franziska schlechte Stimmung. Am Morgen hatte sie wieder Krankengymnastik. Seitdem ist sie schräg drauf. Sie schreit und wimmert. Als Zoe sie wickelt, greift sie in die vollgekackte Windel und schmiert Zoe die Scheiße an die Hose. Sie windet sich unter Zoes Händen, tritt die Schwester. Als sie noch ein Kleinkind war und auf den Wickeltisch passte, war alles einfacher. Aber jetzt ist Franzi mittlerweile schon viel zu groß. Ein Kleinkind ist sie schon lange nicht mehr. Angewidert zieht Zoe die Jeans aus und ist Sekunden später angewidert davon, dass sie sich geekelt hat.
Sie spürt schon vor dem Abendessen dieses Kribbeln. Unter der Schädeldecke, in den Händen, in den Füßen. Als würde ein ganz leiser Ton in ihr vibrieren. Ruhelos geht sie in ihrem Zimmer umher. Sie versucht einen Song nach dem nächsten. Keiner hilft. Sie blättert in einer Zeitschrift, sortiert die Stifte auf dem Schreibtisch. Legt alle Hefte und Bücher manisch rechtwinklig auf den Schreibtisch. Sie sucht Halt. Doch der Ton in ihrem Kopf wird nicht leiser.
Als sie vorm Fenster stehen bleibt, sieht sie in ihr eigenes Gesicht. Ganz kühl betrachtet sie die langen, blonden Haare, die gerade, etwas zu lange Nase. Sie registriert die schlanke Taille, kontrolliert im Profil ihre Körperhaltung, streckt sich, dreht sich wieder und schaut sich in die Augen. Sie zeigt keine Regung. Andere würden jetzt eine Grimasse machen. Zoe nicht. Ganz langsam wendet sie sich ab, macht das Licht aus, stellt sich wieder ans Fenster. Sie kann von dort gut in das Wohnzimmer ihrer Nachbarn gucken. Das junge Paar wohnt erst seit einigen Monaten dort. Die Frau hat es geschafft, sich binnen kürzester Zeit fast in der ganzen Straße unbeliebt zu machen. Sie grüßt nie, fährt gerne viel zu schnell durch die Spielstraße und hat ein paar Kinder angebrüllt, die beim Zurückholen ihres Balles wohl eine Blume in ihrem Garten zertreten haben. Ihr Mann hatte noch versucht, beschwichtigend auf seine Frau einzuwirken. Es war ihm nicht wirklich
Weitere Kostenlose Bücher