Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
Konfrontation gefällt ihr. Sie versucht zu vergessen, wie Carl die neue Lehrerin mit seinen Blicken gestreichelt hat. Wie er sie in sich aufgesogen hat.
In dieser Nacht schläft Zoe wieder bei Franzi. Doch sie kriecht nicht unter die Decke der Schwester. Sie schiebt leise einen Sessel an das Bett, kniet sich rein und legt ihren Kopf auf die Matratze. Ganz vorsichtig zieht sie die steife Hand von Franzi zu sich runter und hält sie ganz fest. Ihr Handy piept um fünf Uhr – natürlich ganz leise. Auf Zehenspitzen schleicht sie in ihr Zimmer, legt sich in das kalte Bett. Sie wäre gerne geblieben, aber sie hat keine Lust auf Fragen und keine Lust, sich schon wieder doofe Antworten ausdenken zu müssen. Und sie spürt selber, wie es sie gerade zerreißt. Die Liebe, die Nähe, die Kälte, der Kampf. Sie weiß nicht, wohin es führen wird. Aber sie weiß auch, dass sie diesen Weg gehen muss. Es gibt keine Ausfahrt, keine Alternativroute. Noch nicht mal einen Parkplatz für eine Pinkelpause.
Zwischen den Seiten
D irekt nach dem Frühstück wühlt sie sich durch ihre Schultasche, nimmt sich nach und nach alle Aufgaben vor. Sie fängt mit Bio an, macht Mathehausaufgaben, übt die Vokabeln der nächsten Kapitel in Französisch, ärgert sich noch mal über das blöde Höhlengleichnis. Sie findet die Geschichte so kacke, dass sie sie am liebsten aus dem Buch reißen würde. Oder jedes einzelne Wort mit Edding schwärzen. Mit welcher Berechtigung wurden die Menschen gefesselt in der Höhle gehalten? Das hat ihr bis jetzt noch niemand erklären können. Wenn sie den Zwang ihrer eigenen persönlichen Geschichte ablegen könnte, sie würde jede Minute in Freiheit genießen. Sie würde jeden Augenblick aufsaugen. Um sich abzureagieren, ruft sie Kim an. Da meldet sich die Mailbox. Zoe ist irritiert. Kim geht immer an ihr Handy. In den unmöglichsten Momenten. Manchmal auch nur, um zu sagen: »Sitz gerade auf dem Klo, versuch es in fünf Minuten noch mal.« Das macht sie erstens, weil sie permanent Angst hat, sie könnte was verpassen. Zweitens ist es natürlich billiger für sie.
Auch Saskia geht nicht ran. Vielleicht haben ihre Eltern mal wieder das Handy einkassiert, weil Saskia gestern Abend zu spät war oder so. Gestern. Zoe fühlt sich, als würde ihr ein Wort nicht einfallen. Als würde ihr etwas auf der Zunge liegen. Sie macht weiter mit Englisch. Das ist ihr besonders wichtig. Zwei Stunden übersetzt sie Texte und übt Zeitformen. Sie hat keine Lust darauf, dass die blöde Alt sie bei einem Fehler erwischt und mit ihrem pseudo-freundschaftlichen Lächeln bedenkt. Wenn einer einen Fehler macht, guckt sie immer so wie »Ich sag’s keinem weiter.« Natürlich nicht. Wem auch? Aber irgendwann wird sie Noten verteilen. Dann ist wahrscheinlich Schluss mit Freundschaft. Der gedankliche Weg von Enya Alt zu Carl ist kurz. Und verlockend. Sie lässt sich aufs Bett fallen, denkt an den gestrigen Nachmittag. An das Kribbeln der Furcht in ihrem Bauch, an die Anspannung. Sie genießt jedes Gefühl noch in Zeitlupe. Sie sieht sich selber wie durch fremde Augen, sieht sich und Carl wie ferngesteuert durch die Räume schleichen. Sie lässt sich langsam in den Schlaf gleiten. Die Nacht war kurz.
Als sie aufwacht, fällt ihr das Wort ein. Reitprüfung . Das war ihr vorhin bei dem Gedanken an gestern nicht in den Sinn gekommen. Mist. Kim hatte ihre Prüfung. Und Zoe ist weder hingefahren, noch hat sie sich erkundigt. Am liebsten würde Zoe direkt zu ihr düsen, sich jede einzelne Sekunde erzählen lassen. Kim will das bestimmt loswerden. Detailliert bis ins letzte Schweifhaar. Doch gestern noch Magen-Darm-Virus, der sie ans Klo gefesselt hat, und heute fit auf dem Rad? Das würde komisch aussehen. Sie ruft noch mal an. Wieder nur die Mailbox. Sie tippt die Festnetznummer ein. Kims Mutter ist gestresst und teilt Zoe nur kurz mit, dass Kim weg sei. Als Zoe nachfragen will, wann sie zurückkommt, ist die Verbindung schon unterbrochen. Wahrscheinlich hat Kim gestern bestanden, will nun einen eigenen Gaul und hat deshalb Zoff. Zoe schlendert durchs Haus, legt sich bäuchlings vor ihren neuen Teich ins Gras.
»Den hast du echt super hingekriegt«, ertönt plötzlich die Stimme des Vaters. »Hast du das wirklich alleine geschafft?«
»Ein Mitschüler hat mir geholfen«, antwortet Zoe, ohne aufzublicken. Er soll gehen. Sie möchte noch mal an die Nacht im Garten denken.
»Wer denn?« Stefan Kessler lässt nicht locker.
»Bob, der
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