Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
nicht. Sie erzählen wortgewaltig von den netten Ärzten, der modernen Klinik, von Franzi, die alles ganz toll mitgemacht habe. Nur das Ergebnis bleibt deprimierend: Franzi wird niemals viel mehr können als jetzt. Ganz hinten in ihrem Herzen hatte Sonja Kessler immer diese Hoffnung. Dass ihre jüngere Tochter doch selbstständiger werden, mehr Reaktionen zeigen könne. Sie hat nächtelang im Internet recherchiert, mit anderen betroffenen Eltern gesprochen und gemailt. Alle traurigen Krankengeschichten hat sie ausgeblendet, sie hat sich an den mutmachenden Lebensgeschichten entlanggehangelt. Sie hat erzählt von Kindern, die in der Lage waren, eine Art eigene Sprache zu entwickeln. Die sitzen, ihren Kopf halten konnten. Sie hat Aktenordner angelegt, sich selber Mut angelesen, zugeredet. Die Ärzte haben ihrem Mut die Flügel gestutzt. Ja, sie solle an Franzi glauben, aber nicht an Illusionen. Sie solle Franzi so nehmen, wie sie ist. Das fällt Sonja Kessler schwer. Sie möchte so sehr, dass es ihrer Tochter gut geht. Dass es ihr selber dann auch besser ginge, wissen alle.
Zoe unterbricht ihre Eltern fast rüde. Sie kann es nicht mehr ertragen. Sie spürt die Worte, die traurigen Blicke ihrer Mutter wie Schläge.
»Ihr könnt nachher mehr erzählen. Ich muss jetzt noch mal los.«
Sie schnappt sich nur ihren Hausschlüssel, geht ziellos davon. Immer wieder gräbt sie die Fingernägel in die Handwunde. Es schmerzt nicht genug. Sie geht rechts rum, links, immer weiter. Steht plötzlich in einem Neubaugebiet. Manche Häuser sind schon bewohnt, viele noch im Rohbau. Sie schiebt einen klapprigen Metallzaun zur Seite, geht in einen Ziegelbau. Das Treppenhaus ist hoch, wohl ein Mehrfamilienhaus. Sie geht ganz nach oben. Die Treppe schwebt. Von oben hat sie einen herrlichen Blick. Alles ist kleiner. Sieht so schön irreal aus. Natürlich sieht sie die vier Jungs, die gerade noch mit ihren Bobbycars auf der Straße gefahren sind. Sie sind dem fremden Mädchen ins Haus gefolgt. Noch haben sie sich nicht auf die Treppe getraut. Wieso lassen die Eltern diese Knirpse hier alleine spielen? Wissen die nicht, wie dankbar man für ein gesundes Kind sein sollte? Was das für ein Wunder ist? Sie steht ganz oben an der Kante. Offenbar soll hier mal eine riesige Fensterfront rein. Jetzt klafft hier ein Loch. Das Perverse ist: Selbst dieser kleine Schritt wäre keine Lösung. Sie wäre nicht mehr da. Das Ergebnis ihres Egoismus’ aber doch noch. Sie denkt nicht darüber nach, dass ihre Eltern ihren Tod betrauern würden. Das kommt ihr gar nicht in den Sinn. Sie weiß nur, dass er ihnen auch nicht helfen würde. Allein deswegen geht sie einen Schritt zurück. Das Schlimmste, was sie selber tun kann, ist immer noch zu klein gegen das, was sie angerichtet hat. Sie fühlt sich klein, machtlos, überflüssig. Im Erdgeschoss gucken die vier Jungs sie mit großen Augen an.
»Tolle Aussicht oben«, sagt sie nur.
In der Nacht zieht es sie seit ewigen Zeiten mal wieder zu Franzi ins Bett. Früher hat sie sich oft nachts an ihre Schwester gekuschelt. Wollte sofort zur Stelle sein, wenn diese was brauchte, anders liegen wollte, Durst hatte, gestreichelt werden wollte. Ganz vorsichtig hebt sie die Decke, schlüpft darunter und schmiegt sich an den warmen Körper. Wie früher erzählt sie ihrer Schwester flüsternd Geschichten. Alles Mögliche, was ihr gerade in den Sinn kommt. Doch Franziska wird unruhiger. Sie wälzt sich, stöhnt leise. Die Untersuchungen haben sie verstört. Zoe versucht es mit Liedern. Sie singt, bis sie Tränen in den Augen hat. Es wirkt nicht. Nicht heute. Oder nicht mehr. Seufzend lässt Zoe sich aus dem Bett gleiten. Doch sie geht nicht in ihr eigenes. Sie schleicht sich zu ihrer Mutter, legt sich neben sie. Es ist kühl im Elternschlafzimmer. Die Balkontür ist weit geöffnet. Zoe hat nur einen Slip und ein Hemdchen an, sie fröstelt. Aber sie legt sich nicht unter die Decke. Sie liegt nur da und friert. Immer wieder sagt sie in Gedanken Entschuldigung in das schlafende Gesicht von Sonja Kessler. Aber die kann nichts hören.
Carl weiß, dass er jetzt nicht nachlassen darf. Schon am Samstag simst er Zoe. Lust auf ein kleines Foto-Shooting? Um 12 am Bahnhof.
Klingt nach einem schlechten Western , antwortet Zoe und lässt offen, ob sie kommt. Er weiß trotzdem, dass sie da sein wird.
Zoe verzieht das Gesicht. Das hatte sie ganz vergessen. Um halb zwölf teilt Saskia ihr ebenfalls per SMS mit, dass sie Zoe um zwei abholen
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