Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
»Wunder-Bar« ihr Stammcafé. Enya Alt bestellt zwei Cola. Erstaunt stellt Zoe fest, dass auch hier niemand die Lehrerin grüßt. Selbst die Bedienung scheint sie nicht zu kennen.
»Sind Sie öfter hier?«
»Schon. Der Biergarten hier ist einfach traumhaft. Außerdem haben die hier gute Salate und Suppen. Ich kann nicht so gut kochen.«
Zoe legt den Kopf schief. Ist Enya Alt einsam? Hat die überhaupt Freundinnen? Einen Freund? Redet die in ihrer Freizeit? Oder muss die sich in der Schule leer quatschen?
Nur ein Mal Luft holen
L illy.
Sie wacht mit dem Namen im Kopf auf. Wie große Leuchtbuchstaben einer Reklametafel leuchtet der Name in ihr.
Wieso hat sie nicht vorher an sie gedacht? Sie guckt auf die Uhr. Zehn nach acht. Für einen Samstag zu früh. Lilly wird sicher noch nicht wach sein. Zoe bleibt noch liegen. Dass sie nicht mehr schlafen wird, weiß sie. Aber wozu aufstehen? Im schlimmsten Fall wollen ihre Eltern ein weiteres ernstes Gespräch mit ihr führen. Sie steckt sich die Knöpfe in die Ohren, dreht auf. Es ist immer ein Drahtseilakt den Punkt zu finden, an dem die Musik laut genug ist und noch nicht weh tut. Bis neun Uhr lässt sie sich die Bässe durch den Kopf hämmern. Dann wagt sie es.
Lilly geht nach dem sechsten oder siebten Klingeln völlig verschlafen dran.
»Morgen, hier ist Zoe. Schläfst du noch?«
»Eigentlich ja«, stöhnt Lilly.
»Kannst dich gleich wieder umdrehen. Ich wollte nur fragen, ob du Lust hast, gleich mit in die City zu kommen. Oder wie wäre es mit Freibad?«
Zoe würde auch anbieten, Lilly beim Unkraut zupfen oder Badezimmer putzen zu helfen. Sie will mit jemandem reden, sich ablenken lassen, sich gemocht fühlen. Sie will verdammt noch mal nicht alleine mit sich sein.
Lilly gähnt laut. »Eigentlich gerne, aber ich bin schon ausgebucht. Ein paar Mädels aus meiner neuen Klasse kommen gleich. Wir haben uns zusammen ein Set für French-Nail-Design gekauft und wollen das ausprobieren.«
Sie fragt nicht, ob Zoe vielleicht dazukommen will.
»Dann feilt mal schön. Bis bald.«
Zoe schafft es aufzulegen, ehe die Tränen ihre Stimme aufweichen, brüchig machen. Sie kann sie jetzt nicht mehr aufhalten. Wenn sie einmal tropfen, ist es zu spät. Dann gibt es kein Zurück mehr. Wie beim Pipimachen.
Sie umarmt ihr Kopfkissen, presst es sich dicht vors Gesicht. Die Tränen kommen von ganz unten, von ganz innen. Sie sind früher und jetzt. Sie sind heiß und kalt. Bitter und salzig. Und sie waschen sie nie rein. Nichts wird rausgewaschen. Es ist der Moment, in dem keine Worte mehr da sind, in dem der Schmerz das Sagen hat, in dem sie ihre Trauer fühlt wie eine alles verschlingende Dunkelheit. In der sogar die hellste Sonne aufgesogen würde.
Sie hasst diese Momente. Weil sie dann schwach ist. Klein.
Und sie liebt sie, weil sie ihr erlauben, sich endlich fallen zu lassen. Weil ihre Seele mal kurz Luft holen darf, um bald wieder Stärke zu simulieren.
Als ihre Eltern sie zum Frühstück rufen, ist davon nichts mehr in ihrem Gesicht zu lesen. Ein Peeling, eine Schaummaske, Tagescreme und Wimperntusche haben die gewohnte Zoe erscheinen lassen. Sie schiebt Franziska auf die Terrasse. Füttert sie mit eingeweichten Croissantstücken. Danach schiebt die den Rollstuhl über den Rasen zu ihrem Teich. Stefan Kessler hat das Ufer noch mal befestigt, ein paar Falten geradegezogen. Zoe platscht mit der Hand ins Wasser. »Guck mal, Franzi, Wasser«, lacht sie.
Franziska sieht in den Himmel, fixiert etwas Unsichtbares.
»Hier, für dich. Da schwimmen bald Fische drin. Fisch. Blubb. Blubb.« Zoe macht mit der Hand Wellen.
Franzi quietscht. Sie hat einen Vogel gesehen.
»Hier Franzi. Schau mal. Wasser.«
Zoe lässt ihre Hand auf das Wasser klatschen. Es spritzt. Sie klatscht fester. Es spritzt höher. Franzi erschrickt sich. Sie hat ein paar Tropfen abgekriegt. Sie wirft sich zurück, stößt mit dem Kopf gegen die Lehne. Zoe haut ein letztes Mal auf die Wasseroberfläche. »Das habe ich für dich gemacht. Ein kleiner See. Nur für dich«, brüllt sie.
Franziska brüllt auch.
Zoe rennt ins Haus. Nein, sie weint nicht mehr. Sie ist leer. Alles in ihr ist taub. Mit zwei Griffen hat sie Buch, Heft und Etui aus der Tasche geholt. Sie fängt an zu rechnen. Die nächsten zwölf Aufgaben im Mathe-Buch. Das kann sie. Darin ist sie gut. Das fühlt sich gut an. Die Welt der Zahlen ist so klar. Richtig oder falsch. Kein dazwischen. Kein: ja, aber.
Spinnweben
S ie erschrickt, als sie
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