Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
sie auf.
Ihre Mutter saß bereits am Tisch, hatte wieder diese Falte zwischen den Augenbrauen.
Der Vater ergriff das Wort. »Was ist los, Zoe? Und sei bitte ehrlich. Das ist in letzter Zeit ja offenbar keine Selbstverständlichkeit.« Seine Stimme klang ruhig, aber nicht freundlich.
»Was soll los sein?« Zoe ging zögernd zum Tisch, setzte sich ganz vorne auf die Stuhlkante. Sie wollte jederzeit wieder aufspringen können.
»In letzter Zeit lügst du. Du hast deine Freundinnen angelogen. Und jetzt auch uns. Wir kennen dich überhaupt nicht wieder. Du warst doch sonst immer ehrlich.«
»Jetzt setz dich verdammt noch mal richtig hin«, zischte ihre Mutter.
»Sonja. Wir haben gesagt, dass wir ganz ruhig miteinander reden«, wandte sich Stefan Kessler an seine Frau.
»Wann habe ich euch angelogen?«
»Das letzte Mal heute Nachmittag. Wir haben bei Saskia angerufen. Wir dachten, dass diese außerordentliche Probe wohl kaum so lange dauern kann. Wir dachten, du hast vielleicht einfach vergessen, dass wir hier auf dich warten. Überraschenderweise wusste Saskia gar nichts von einem Treffen.«
Zoe atmete erleichtert ein. »Natürlich nicht. Sie ist leider ein bisschen zu übergewichtig für unsere Tanzgruppe. Deswegen ist sie nicht dabei und wusste dementsprechend auch nichts von dem Treffen. Kann ich jetzt hochgehen?«
»Nein«, brüllte Sonja Kessler.
Stefan Kessler legte seine Hand auf ihre. Er wandte sich an Zoe, guckte ihr direkt in die Augen. »Wohl kaum. Saskia hat uns das nämlich auch gesagt. Sie hat behauptet, dass sie nicht mittanze und dass wir uns keine Gedanken machen sollten. Du seiest bestimmt noch auf dem Sportplatz und würdest bald kommen.« Stefan Kessler ist immer noch ruhig. Als wäre er in einer Zeugenbefragung.
»Wir haben uns aber Gedanken gemacht und deswegen auch noch bei Kim angerufen.«
Zoe lehnte sich zurück. Das Eis würde dünner. Aber sie hatte keine Angst einzubrechen. Sie wusste, dass es einfach nichts gibt, mit dem ihre Eltern drohen könnten. Keine Strafe, kein Verbot. Sie fühlte sich unwohl. Mehr nicht.
Sonja Kessler konnte nun nicht mehr an sich halten: »Zoe, wir lieben dich. Aber wir lassen nicht zu, dass du uns an der Nase herumführst. Ich will einfach nicht verarscht werden von dir.«
»Sonja bitte.«
Stefan Kesslers Versuche, die Stimmung ruhig zu halten, waren gescheitert.
Zoe sprang auf. Diese Worte, die ihre Mutter gerade ausgesprochen hat, öffneten ein Ventil. Das Eis war gebrochen, und sie war ganz kurz eingetaucht. Hatte das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Sie schoss wieder an die Oberfläche.
»Ihr liebt mich? Du behauptest wirklich, du liebst mich? Hör doch auf mit dem Mist. Mit dieser verlogenen Kacke. Du musst das nicht sagen. Ich kann doch verstehen, wenn du es nicht tust. Wie solltest du auch? Es ist okay für mich. Ich erwarte das nicht von euch. Ich tue es selber ja auch nicht.«
Ihre Stimme überschlägt sich.
Sonja und Stefan wechselten einen überraschten Blick. Stefan Kessler versuchte, den Arm um Zoe zu legen. Sie stieß ihn weg.
»Lass mich. Okay? Ich habe gelogen. Ich habe dafür Gründe. Ich tue es nicht mehr. Ich möchte nicht mehr reden. Ich möchte jetzt bitte gerne ins Bett. Darf ich?«
Sie musste weg. Sie musste gehen. Sie ertrug es nicht.
Sonja Kessler starrte immer noch ihre Tochter an. Fassungslos. Stefan Kessler nickte müde.
Es dauerte lange, bis Sonja Kessler etwas sagen konnte. Mit Tränen in den Augen schaute sie ihren Mann an. »Glaubt sie wirklich, wir lieben sie nicht? Wie kann sie das denken? Das tut mir so weh.«
Endlich durfte Stefan Kessler den Arm um jemanden legen. »Gehört das nicht zur Pubertät? Dass man sich ungeliebt fühlt? Sich selber nicht mag? Wir haben immer nur auf Franzi geguckt, weil Zoe ja immer so perfekt war. Vielleicht haben wir nicht mitbekommen, wie sich die Hormone in ihr aufgestaut haben und sich nun entladen«, beruhigte er seine Frau.
»Vielleicht hat es auch was mit diesem Carl zu tun. Vielleicht ist sie verliebt und er lehnt sie ab«, vermutete Sonja Kessler.
Beide wollten einfach nur zu gerne glauben, dass es ein pubertärer Sturm war, der über sie hinweg gefegt ist. Die Wahrheit hätte ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen.
Mitten in der Nacht wacht Zoe auf. Ihre Mutter schreit, ihr Vater rennt nach unten, stolpert hörbar auf der Treppe. Franzi hat einen Krampfanfall. Zoe hört ihren Vater bis oben fluchen, offenbar findet er die Notfalltropfen nicht sofort. Zoe
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