Eistochter
sichern.
Ich sehe zu, wie Mr. Proctor auf den Wandbildschirm hinter seinem Schreibtisch tippt und alle Gesellschaften auf einer Landkarte aufleuchten lässt.
Klick, Licht. Der Westen, in dem wir leben und der sich von den nördlichen Städten Ottawa und Calgary bis nach Austin im Süden erstreckt, erscheint grün eingefärbt auf dem Bildschirm.
Noch ein Klick. Der Osten, der ein Gebiet umfasst, das früher einmal Asien hieß, erstrahlt in Hellblau.
Klick, klick, klick – der Süden, das Zentrum und die Inseln erscheinen. Ein letzter Klick. Der Norden, der nur noch dem Namen nach eine Gesellschaft bildet und aus einer eisbedeckten Landmasse besteht, die einmal Europa hieß. Nur eine geringe Restbevölkerung hat dort überdauert.
Mr. Proctor überblendet die antike Karte mit einem Bild der Welt. »Die Welt war vor dem Langen Winter ungemein überbevölkert und zersiedelt.«
Ich schreibe das Wort »Empfindsame« auf eine der schmalen blauen Linien auf meinem Papier. Welch ein Oxymoron! Es impliziert ein zartfühlendes Wesen, aber genau das zeichnet die Empfindsamen nicht aus. Da sie entschlossen waren, die Menschheit in ihre Gewalt zu bringen, haben sie den Langen Winter auf uns losgelassen – ihr letzter Spielzug nach Jahrtausenden voller Seuchen, Erdbeben und Hungersnöte – und die menschliche Bevölkerung der Welt beinahe ausgerottet.
Zum Glück gelang es den Gründern herauszufinden, wie man die Chromosomenanomalie der Empfindsamen identifizieren kann. Die meisten werden schon in ihrer Kindheit entdeckt und bekommen rote Armbänder angelegt, die sie nicht abnehmen können und die jede ihrer Bewegungen nachverfolgen. Die Empfindsamenpolizei spürt die Übrigen auf – diejenigen, die frei umherstreifen und sich in den Schatten verstecken, statt in den bewachten Siedlungen am Rand der großen Städte zu leben. Da keiner weiß, wie man gegen Magie kämpft, müssen unsere Polizisten sie überrumpeln, um sie zu überwältigen.
Aber eines gilt für beide Gruppen gleichermaßen: Es darf ihnen unter keinen Umständen gestattet werden, sich zu vermehren.
Ich überfliege mein Buch, bis ich die Bilder historischer Empfindsamer finde. Manchmal werden sie in alten Büchern als Hexen bezeichnet. Aber das war, bevor festgestellt wurde, was sie auszeichnet – zusätzliche Sinne. Infolge dieser Erkenntnis wurde die neue Bezeichnung eingeführt.
Ich tippe auf eine Seite, um einen heranzuzoomen. Sie sehen überhaupt nicht aus wie die Gruppe, die Beck und mich angegriffen hat. Die von heute Morgen wirkten abgesehen davon, dass sie nicht das verpflichtende Armband trugen, genauso wie wir – wie normale Menschen, zumindest wenn man die wahnsinnigen Augen der Frau außer Acht lässt.
Das Bild in meinem Buch erstrahlt und verblasst unter meinen Fingern. Ich blättere um und finde Caitlyn Greene – meine Ahnin –, die mich, umgeben von den übrigen Gründern, aus den Tiefen der Zeit anlächelt. Abgesehen von unserem kastanienbraunen Haar und unserer geringen Körpergröße ähneln wir einander überhaupt nicht. Mit ihren großen Augen und vollen Lippen sieht sie eher wie Mutter oder sogar Kyra aus – nicht wie ich.
Wie konnte diese Frau nur den Mut aufbringen, einer derart gefährlichen Gruppierung die Stirn zu bieten? Sie war nicht viel älter als ich jetzt, erst zweiundzwanzig, als sie zum Staatsoberhaupt gewählt wurde.
Ein Hauch von Beschämung nagt an mir. Wie kann ich ihre Nachkommin sein? Meine erste Reaktion war nicht, mich den Empfindsamen zu stellen, sondern mich zu verstecken. Anders als Beck.
Das Bild wird wieder kleiner. Um Caitlyn herum stehen weitaus ältere und stärkere Männer, deren Körpersprache aber Ehrerbietung verrät. Caitlyn war eindeutig diejenige, die das Heft in der Hand hatte.
Mein Blick fällt auf den Mann zu ihrer Linken, der, anders als die anderen Herren, in Caitlyns Alter zu sein scheint: Charles Channing, Becks Ururgroßvater und Caitlyns rechte Hand. Ich habe nie ein Bild von einem der beiden ohne den anderen gesehen. Die Kriegerin und der Diplomat – so werden sie in den meisten Texten genannt.
Charles hat den Arm vertraulich um Caitlyns Schultern gelegt und hält ihr den Kopf leicht zugewandt, als ob er ihr gleich etwas ins Ohr flüstern möchte. Er ist so blond wie Beck und hat den gleichen schelmischen Blick.
Annalise kann doch Beck nicht verdächtigen, oder? Nicht wenn Charles Channing sein Vorfahre war. Das wäre Blasphemie. Schließlich ist Charles derjenige, der
Weitere Kostenlose Bücher