Eistochter
unseres Klassenzimmers und verstelle ihm den Weg hinein.
»Was ist los?«, frage ich mit Nachdruck.
Zum ersten Mal bemerke ich, wie sehr er zittert. Ich verschränke die Finger mit seinen und küsse aus Gewohnheit unsere verschlungenen Hände. Vielleicht hat er mich deshalb so umklammert gehalten? Weil seine Hände verraten, wie viel Angst er hat?
»Beck, du glaubst doch nicht wirklich, dass Annalise dir vorgeworfen hat, die Empfindsamen zu uns gelockt zu haben, oder?«
Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht.«
Wenn Beck nicht selbst derjenige wäre, der das sagt, würde ich die Bemerkung lächerlich finden. Unsere Familien sind über jeden Zweifel erhaben. Wir sind über jeden Zweifel erhaben. Obwohl seine Eltern keine hohen Staatsämter innehaben, weiß jeder, dass die Channings eine gute Familie mit ausgeprägtem Pflichtgefühl sind.
Mr. Proctor, unser Gesellschaftskundelehrer, reißt die Tür auf, so dass wir den Blicken eines ganzen Klassenzimmers voller Schüler ausgesetzt sind.
»Habt ihr beiden vor, zu uns zu stoßen?«, fragt er. Ein paar Schüler kichern.
Verlegen lasse ich Becks Hand los und gehe eilig zu meinem Tisch. Beck setzt sich auf den Platz neben mir.
»Wir haben die Prüfung schon hinter uns«, erklärt Mr. Proctor. »Ihr beiden werdet sie privat nachholen müssen. Sagt Bethina, dass sie deswegen bei mir anrufen soll.«
Ich lasse den Kopf hängen und halte meine Tränen zurück. Vielleicht liegt es nur daran, dass der Tag so belastend war, aber das eine, was ich wollte, wirklich wollte, wird nun nicht geschehen.
Da ich mir bewusst bin, dass alle mich beobachten, schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter und wühle in meinem Rucksack herum, bis ich altmodisches Papier und einen Stift finde. Eine der unerträglichen Freuden dieses Kurses ist die, dass wir auf Papier schreiben müssen, wie es vor Hunderten von Jahren üblich war. Obwohl ich jetzt schon besser darin bin, bekomme ich immer Krämpfe und Schmerzen in der Hand, wenn ich mir so Notizen mache. Beck dagegen schreibt sogar zu Hause lieber mit der Hand.
Kyra beugt sich über den Gang zu mir. »Ist alles in Ordnung?«
Ich ziehe die Nase hoch. »Ja. Ich bin sicher, dass man uns keine Vorwürfe dafür machen wird, dass wir die Prüfung versäumt haben. Es ging nicht anders.«
»Lark, ich spreche von dir. Geht es dir gut? Haben sie dir wehgetan?« Ihre Augen blicken besorgt.
Geht es mir gut? Ich bin nicht mehr in Panik oder verängstigt, und als Beck und ich zusammen auf dem Hügel gestanden haben, habe ich mich konzentriert und stark gefühlt – genau, wie es einem in der Staatsausbildung beigebracht wird. Doch ich bin verstört. Aber warum? Wegen Annalises verhüllter Vorwürfe? Weil ich die Situation selbst nicht verstehe? Oder bin ich traurig, weil ich die Prüfung verpasst habe?
»Alles ist gut. Der Staat ermittelt.«
»Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst.«
Ich nicke, und sie kritzelt weiter auf ihrem Papier herum. Wie ich hasst sie das Schreiben. Anders als ich hat sie es nie richtig gelernt, so dass sie sich immer meine Notizen leihen muss, und deshalb passt sie jetzt auch nicht auf.
Vorn im Klassenraum verbreitet Mr. Proctor sich über den Langen Winter. Nicht einmal eine Sicherheitslücke kann mich davor bewahren. Er scheint zu glauben, dass die leichteste Art, sich von einem nervenzerreißenden Überfall zu erholen, darin besteht, uns mit Geschichte zu langweilen. Ich verstehe nicht, warum wir dieses Thema überhaupt noch behandeln. Jeder weiß Bescheid über »Aufbau und Geschichte der Gesellschaft«. Es ist jedes Jahr derselbe Kurs mit denselben Informationen. Wenn man sie selbst jetzt noch nicht auswendig kann, ist man wirklich ein hoffnungsloser Fall.
Mr. Proctors Stimme dringt mir in die Ohren: »Eis und Schnee bedeckten ganze Kontinente, zerstörten die bewohnbare Erdoberfläche und lösten so einen fünfzigjährigen Krieg aus, da es zu Wanderbewegungen kam. Über die Hälfte der Weltbevölkerung verschwand.«
Ich muss nicht aufpassen, ich weiß das alles auswendig: dass das Zentrum, das man früher als Afrika bezeichnete, nur noch ein Zehntel seiner einstigen Ausdehnung hat und dass es damals anstelle unserer fünf großen Gesellschaften mehr Länder gab, als ich mir überhaupt vorstellen kann. Dass die Gesellschaften einander gegenseitig zerstört hätten, wenn es meiner Vorfahrin, Caitlyn, nicht gelungen wäre, sie in dem gemeinsamen Ziel zu einen, das Überleben der Menschheit zu
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