Eistochter
breiter.
Ich betrachte ihr Armband. »Ist Ihr Partner auch zu Hause?«
»Oh nein. Sie ist schon vor sehr, sehr vielen Jahren gestorben.« Sie stellt ihre Tasse auf den Tisch und schlurft zum Wandbildschirm. »Ich muss die Nummer der Behörden-Hotline suchen. Ich wette, du kannst es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.«
Ich nicke und hoffe, dass ich dankbar wirke, aber das Herz pocht mir heftig in der Brust. Ich muss hier weg. Bevor sie meine Mutter anruft.
Miss Tully fummelt an den Kontrollknöpfen des Wandbildschirms herum. Nichts passiert, und ich spreche ein stummes Dankgebet. Die Verbindung scheint tot zu sein.
Meine Erleichterung hält aber nur kurz an, bis ein flackerndes Bild auf der Mattscheibe erscheint. Der Sturm sorgt dafür, dass es erst noch einmal verblasst, bevor es sich verdichtet, aber als es das dann tut, steht mir vor Erstaunen der Mund offen.
Da, auf dem Bildschirm, wird Beck gezeigt, der gemächlich zu unserem Haus zurückspaziert, den Kopf gesenkt, als sei er tief in Gedanken versunken. Wie kann das angehen? Was tut er da?
Der Nachrichtensprecher kommentiert das Bild: »Wir haben mehrfach versucht, Beck Channing, den Partner des vermissten Mädchens, zu kontaktieren, aber er schottet sich weiterhin ab und ist nicht bereit, ein Interview zu geben.«
Ich mustere Becks Bild genauer. Irgendetwas daran stimmt nicht. Er steigt die Stufen vor der Haustür hinauf, den Rucksack über eine Schulter geschlungen. Er erreicht die Tür und geht ins Haus.
Der Rucksack! Es ist der, den ich in der Scheune zurückgelassen habe. Er kann ihn nicht bei sich haben, weil ich ihn mitgenommen habe. Beck ist nicht zu Hause. Das sind alte Aufnahmen. Aber warum und wann hat man ihn gefilmt?
Ich trete näher an den Wandbildschirm heran und hoffe, dass die Nummer der Hotline nicht allzu bald erscheint.
»Er ist ziemlich gutaussehend«, sagt Miss Tully. »Du hast Glück, Mädchen.«
Unfähig, den Blick vom Bildschirm abzuwenden, murmle ich: »Ja, er ist toll.«
Becks Bild verschwindet vom Bildschirm. An seiner Stelle erscheinen Karteifotos von Kyra, Maz, Ryker und zwei weiteren Schülern, die ich zwar schon einmal gesehen habe, aber nicht näher kenne. Unter ihren Bildern stehen die Worte: »Angeklagte Empfindsame werden der Entführung verdächtigt.« Also behauptet man jetzt, dass Maz mich nicht nur entführt hat, sondern noch dazu ein Empfindsamer ist?
Miss Tully stößt mit dem Finger nach dem Bildschirm: »Diese jungen Leute müssen dafür bestraft werden, dass sie versucht haben, dich zu entführen! Und wenn man erst an die Geldsumme denkt, die sie von deiner Familie zu erpressen versucht haben! Verabscheuungswürdig!«
Ich ordne die Informationen. Es sind fünf Bilder auf dem Bildschirm. Fünf, einschließlich Maz. Fünf. Dieselbe Anzahl wie die Empfindsamen, die in der Schule enttarnt worden sind – und Beck ist nicht dabei.
Maz’ Worte hallen in meinem Kopf wider: Wirklich, ich möchte wetten, dass sie jetzt so richtig im Schadensbegrenzungsmodus ist.
Das ist es. Mutter betreibt Schadensbegrenzung. Niemand weiß, dass Beck empfindsam ist. Und ich bin nicht davongelaufen. Ich bin von Empfindsamen entführt worden, die Geld von meiner Familie erpressen wollten.
Wie aufs Stichwort erscheint das Bild meiner Mutter. Sie wirkt verhärmt. Einzelne Strähnen ihres sonst so streng frisierten blonden Haars haben sich aus ihrem Knoten gelöst. Unter den blauen Augen hat sie dunkle Ringe.
»Wir wollen bloß Lark zurückhaben. Unversehrt. Bitte.« Sie presst sich ein spitzenbesetztes Taschentuch vor den Mund und wendet sich von den Kameras ab, wie um Tränen zu verbergen. Meine Mutter weint nie. Sie ist das Rückgrat unserer Gesellschaft, diejenige, die allen anderen Halt gibt. Sogar als das letzte Staatsoberhaupt ermordet wurde, hat sie keine einzige Träne vergossen, sondern einfach weiter ihre Aufgabe erfüllt.
Und doch ist sie jetzt auf dem Wandbildschirm zu sehen, wie sie um mich weint.
Die Nachrichtenjournalisten rufen ihr Fragen zu, aber sie verweigert jede Antwort und verschwindet inmitten ihrer Sicherheitsleute.
Ich sehe mir noch ein paar Interviews an – mit dem Schalterbeamten, der mir meine Fahrkarte verkauft hat und behauptet, dass er den Eindruck gehabt hätte, ich wäre von »widernatürlichen Kräften« kontrolliert worden, mit dem Barkeeper, der im Speisewagen den Streit zwischen Maz und mir beobachtet hat, aber um seine eigene Sicherheit fürchtete, und so weiter. Jedes Interview ist
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