Eistochter
beide, mich von meinem empfindsamen Partner fernzuhalten. Warum?
Da ich nicht weiß, wie spät es ist, schleiche ich mich zum Scheunentor, verberge mich in den tiefen Schatten und spähe nach draußen. Der Schnee ist nicht mehr da, und es ist immer noch hell – vermutlich ist es spätnachmittags. Der leere Hof vor der Scheune flirrt unter der unbarmherzigen Sonne wie eine Fata Morgana. Für jemanden wie mich, der den Winter bevorzugt, ist es zu warm. Aber es scheint keine Gefahr zu drohen, und für den Augenblick ist das alles, was ich verlangen kann.
Ich komme an einem zusätzlichen Heuballen vorbei und beschließe, ihn in meine Box zu schleifen. Er wird eine gute Sitzbank abgeben. Es ist zu warm für lange Ärmel, und so ziehe ich mir stattdessen ein T-Shirt über und binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz.
Besser.
Ich finde ein Brötchen, das Maz in meinen Rucksack gesteckt haben muss, und beiße ein Stück davon ab. Diese kleine Entdeckung erinnert mich daran, wie er verängstigt und hilflos auf dem Bahnsteig gestanden hat. Ich weiß, dass er mir geraten hat zu fliehen, aber ich fühle mich entsetzlich, weil ich ihn im Stich gelassen habe. Callum war auf der Suche nach mir, nicht nach Maz. Wenn ich mich gestellt hätte, hätten sie Maz vielleicht gehen lassen, und dann hätte er Beck suchen und ihm erzählen können, dass ich versucht habe, ihn zu finden.
Ich breche noch ein Stück von dem Brötchen ab und stecke es mir in den Mund. Was wollen Callum und Annalise überhaupt von mir? Es kann doch nicht allein daran liegen, dass meine Mutter mich nach Hause holen will. Annalise würde es nicht wagen, ihre Empfindsamkeit allein aus dem Grund unter Beweis zu stellen. Das Risiko ist zu groß. Es muss um mehr gehen.
Vielleicht versuchen sie, mich von Beck fernzuhalten, weil sie wissen, dass ich mich bemühen werde, ihn »gut« zu machen? Vielleicht wollen sie, dass er böse bleibt, damit er mit ihnen zusammenarbeiten kann? Vielleicht kontrolliert Annalise Callum, meine Mutter und alle anderen telepathisch, in der Hoffnung, selbst einmal Staatsoberhaupt zu werden?
Mir wird zum ersten Mal bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was die Empfindsamen bewirken können, abgesehen von vagen Vorstellungen wie »die Welt zerstören«, »uns töten«, »uns kontrollieren« und dergleichen mehr. Wir haben in der Schule eigentlich nie etwas über ihre spezifischen Fähigkeiten gelernt.
Das Klirren von Schlüsseln lässt mich hochschrecken, und ein dicker Kloß bildet sich in meiner Magengrube. Ich verstecke mich in der entferntesten Ecke der Box und bedecke meine Beine mit losem Heu. Das Geräusch kommt näher und macht an der Box neben meiner Halt.
Auf der anderen Seite des Holzgitters steht eine alte Frau neben einem Handkarren. Sie ist wie eine Bäuerin gekleidet – kniehohe Gummistiefel, Strickjacke über einem lockeren Baumwollhemd, das Haar zu einem Zopf geflochten. Nur eine alte Lady würde bei dieser Hitze so eine Jacke tragen – und doch habe ich einmal gehofft, eines Tages auch so gekleidet zu sein.
Ein Seufzen entschlüpft meinen Lippen.
»Ist da jemand?«, fragt sie.
Ich zögere und wäge die Risiken ab. Sie wirkt harmlos, aber man weiß ja nie. Empfindsame sind überall.
Sie ruft noch einmal. Ich beobachte sie durch die engen Ritzen der Box, während ich die Situation analysiere.
Ich brauche Hilfe. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wie ich nach Summer Hill kommen soll. Vielleicht erkennt diese alte Frau, die hier draußen weit von den großen Städten entfernt lebt, mich gar nicht?
»Ja«, sage ich leise und hoffe halb, dass sie mich nicht hört und sich abwendet.
Sie kommt langsam zu meiner Box herüber.
Die Frau schlägt die Hände übers Herz und lässt ihre Schlüssel fallen. Ihr Mund steht offen.
Ich springe ihr bei, weil ich Angst habe, dass ich bei dieser armen alten Frau einen Herzanfall ausgelöst habe. »Es tut mir so leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken! Ich habe mich nur verlaufen, und …«
»Du meine Güte, Kind!« Sie packt meine Hände. »Weißt du, was für Sorgen sich alle machen? Deine arme Mutter hat im Fernsehen um deine sichere Heimkehr gefleht, und da bist du und versteckst dich in meiner Scheune!«
»Was …?«, stammle ich. So viel zu meiner Hoffnung, dass sie mich nicht erkennen wird.
»Bringen wir dich doch erst einmal hoch ins Haus! Wir rufen die Behörden an und bringen dich dorthin zurück, wo du hingehörst.« Sie zieht mich aufs Scheunentor zu.
Ich
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