Eistochter
weiter hergeholt als das letzte. Der einzige Mensch außer Beck, der nicht interviewt wird, ist Bethina. Sogar einige meiner Mitbewohner posieren für die Kameras.
Der Teekessel pfeift, und Miss Tully gießt zwei Becher ein. Ich werfe einen Blick nach draußen. Der Sturm tobt noch immer, aber wenn ich nach Summer Hill will, habe ich keine Wahl.
»Miss Tully?«
»Ja, meine Liebe?«, sagt sie.
»Ich glaube, ich war schon einmal hier, als Kind. Auf einem Ausflug. Wir haben in Summer Hill Halt gemacht. Ist das sehr weit von hier?«
»Warst du dorthin unterwegs? Zu dem alten Relikt?« Sie rührt ihren Tee um.
»Ja. Es war der einzige Ort in dieser Gegend, der mir eingefallen ist, also bin ich dorthin aufgebrochen – nachdem ich entkommen war.« Das ist, wie ich finde, nicht ganz gelogen.
»Ich habe nie verstanden, warum die Leute so versessen auf Artefakte aus der Zeit vor dem Langen Winter sind. Wer würde schon umgeben von all dem alten Plunder leben wollen?«
Ich lächle höflich, da ich nicht klingen will, als ob ich sie auszuhorchen versuchte.
»Nun ja.« Sie hört auf, ihren Tee umzurühren, und nimmt einen Schluck. »Du warst in die richtige Richtung unterwegs. Normalerweise dauert der Weg zu Fuß etwa eine Stunde, aber ich glaube nicht, dass du es gefunden hättest. Der Pfad verläuft hinter der Scheune. Man kann ihn von der Straße aus nicht erkennen.«
»Oh.« Ich versuche, erleichtert dreinzublicken. »Dann ist es ja gut, dass ich nicht weitergelaufen bin. Besonders bei diesem Sturm.«
Der Nachrichtensprecher unterbricht uns: »Wenn Sie Informationen über Lark Greenes Aufenthaltsort haben …«
Miss Tully eilt durchs Zimmer zu den Kontrollknöpfchen des Wandbildschirms.
»… kontaktieren Sie bitte die Vermisstenbehörde von San Francisco.« Eine Nummer leuchtet auf dem Bildschirm auf, und Miss Tully tippt auf ihr Armband.
»Oh, was für ein Ärger«, murmelt sie. Ich hoffe, das heißt, dass sie die Nummer noch einmal eingeben muss.
Ich muss weg. Jetzt. Schnell. Wenn Miss Tully anruft, dauert es vielleicht nur noch wenige Minuten, bis Annalise und Callum ankommen, denn nach dem Schneesturm draußen zu urteilen, sind sie in der Nähe.
Ich springe auf und sage: »Oh nein! Ich habe meinen Rucksack in der Scheune liegen lassen!«
Bevor Miss Tully mich aufhalten kann, renne ich zur Tür. »Rufen Sie bitte an, während ich ihn eben hole? Ich bin gleich zurück.«
»Sei bloß vorsichtig«, antwortet sie. »Da draußen ist es fürchterlich.«
»Ich passe auf. Ich bin gleich wieder da.« Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis ganz nach oben und rücke mir den Schal zurecht.
Als ich die Tür öffne, werde ich in einen winterlichen Wirbelsturm gezogen.
Der heulende Wind kreist um mich und reißt mich beinahe um. Die Scheune ist nur dreißig Meter entfernt, aber der tobende Schnee verbirgt sie, bis ich fast direkt vor der Tür stehe. Ich verschwende keine Zeit, sondern renne zu meiner Box, suche den Rucksack und werfe ihn mir über die Schulter.
Vom Scheunentor aus lasse ich den Blick über die Landschaft schweifen. Selbst wenn Miss Tully versuchen würde, nach mir Ausschau zu halten, würde sie nichts als Weiß sehen. Aber das heißt zugleich auch, dass ich nicht die Augen nach Callum und Annalise offen halten kann.
Der Schnee bildet eine weiße Wand um mich herum. Ich berühre die Scheunenwand und taste mich daran entlang, bis ich die Rückseite erreiche.
Der Schneefall lässt etwas nach, und ich entdecke zwei Baumreihen, die hangaufwärts führen. Es ist kein Weg zu sehen, da ungefähr fünfzehn Zentimeter Schnee liegen, aber das muss er sein.
Ich mustere kurz das freie Feld. Annalise und Callum sind nicht in Sicht, und so stapfe ich zum Pfad. Meine Füße sinken tief in den Schnee ein. Der Wind frischt auf und bläst kräftig gegen meinen Rücken.
Annalise holt mich sicher bald ein. Wild entschlossen, ihr zu entkommen, versuche ich, meine Schritte zu beschleunigen, aber das wird durch den Schnee erschwert.
Als ich den Hügel halb hinauf bin, rutsche ich ab und lande ein paar Meter von seinem Fuß entfernt. Enttäuschung macht sich in mir breit und fleht mich an, aufzugeben und zum Haus zurückzuwandern. Sie bettelt mich an, Miss Tully noch einmal anzulügen und zu behaupten, dass ich mich im Sturm verlaufen habe. Und einen Augenblick lang höre ich auf sie – das Lügen wird mir schließlich allmählich zur zweiten Natur.
Die Stille des Sturms umfängt mich. Obwohl der Schnee so
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