Eistochter
ungeheuer schnell fällt und die Bäume sich in Winkeln biegen, die der Schwerkraft spotten, ist es still.
Das Geräusch meines Atems füllt meine Ohren. Tief in mir spüre ich einen sanften Ruck, als wären mehrere Schnüre um mein Herz gebunden worden. Sie heben mich aus dem Schnee hoch und ziehen mich vorwärts.
Mit neuerlicher Entschlossenheit steige ich den Hügel noch einmal hinauf. Diesmal fällt es mir aufgrund des nachlassenden Windes leichter, aber mein Weg zur Kuppe ist dennoch quälend langsam. Ich rutsche bei jedem zweiten Schritt ein Stück auf dem vereisten Pfad zurück. Die Tatsache, dass die Böen, wenn sie auffrischen, von hinten kommen, macht alles nur noch schlimmer: Kräftige Windstöße lassen mich auf die Knie fallen.
Aufrecht gehend, komme ich nicht voran, und so krieche ich. Der Schnee brennt an meinen Fingern, da ich keine Handschuhe trage, aber ich habe keine Wahl.
Als ich mich dem Grat nähere, beginnen der Wind und der Schnee ihr Folterspiel von neuem. Die eiskalte Luft schneidet mir in die Kehle und brennt mir durch den Schal hindurch in den Nasenlöchern. Die endlose Belastung aus Verwirrung, Enttäuschung und gebrochenem Herzen wird zu viel, und ich gebe auf. Mir gefrieren die Tränen auf den Wangen.
Annalise und Callum müssen in der Nähe sein, um solch einen Sturm auszulösen.
»Komm schon, Annalise!«, brülle ich in den grauen Himmel empor. »Komm und fang mich, wenn du mich unbedingt haben willst!«
Zur Antwort wirbelt der Schnee auf und peitscht auf mich ein. Aber niemand kommt. Ich bin allein, krieche durch den Schnee und weine. Meine Kleider sind nass und schmutzig. Meine Hände sind halb erfroren. Ich wische mir mit dem steifgefrorenen Schal den Rotz von der Nase.
Warum tun sie mir das an? Warum? Ist es wirklich so furchtbar, dass ich Beck sehen möchte?
Kampfesmüde schließe ich die Augen und drehe mich auf den Rücken. Die Erinnerung an Becks warme Hand in meiner füllt mich aus. Meine Tränen fließen langsamer, während die unsichtbaren Schnüre um mein Herz sich fester zusammenziehen. Sie trösten mich seltsamerweise und drängen mich, aufzustehen und durchzuhalten.
Die Empfindung ist ganz sonderbar und unerwartet – so als hätte ich all meine Angst und Enttäuschung weggeweint. Es reicht , denke ich. Es reicht mit dem Selbstmitleid. Hier zu sitzen und zu weinen wird Beck auch nicht zu mir bringen.
Ich stehe auf, entschlossen weiterzumachen. Nur noch ein kleines Stück, rede ich mir ein. Beck ist in der Nähe. Du musst nur noch ein kleines Stück gehen.
Aber nach gefühlten Stunden gehe und krieche ich immer noch mit tauben Fingern und windverbrannten Wangen. Und doch lassen die Schnüre mich nicht anhalten, obwohl ich es will. Sie schleifen mich mit, und ich bin gezwungen, mich weiter voranzukämpfen.
Ich bin mir nicht sicher, wo ich bin. Miss Tully hat zwar gesagt, dass Summer Hill gleich am Ende des Wegs liegt, aber es gibt keinen sichtbaren Weg. Ich könnte genauso gut irgendwo tief im Wald stehen.
Ich suche nach einem Hinweis auf den Ort, an dem ich mich befinde. Es gibt nichts außer Schnee und Bäumen.
Wie verfehlt man einen Landsitz, der so ausgedehnt und prächtig wie Summer Hill ist?
Das tut man nicht. Nicht einmal in einem Schneesturm.
Ich bin sicher noch nicht weit genug vorgedrungen. Ich muss weiter.
Äste brechen unter der Schneelast ab. Ohne Vorwarnung ächzt ein schneebeladener Baum, gibt nach und fällt quer über den Weg. Der Lärm durchschneidet die Schnüre an meinem Herzen, und ich bin losgelöst, allein im Wald.
Niedergeschlagen schleudere ich meinen Rucksack auf den Boden. Das ist nicht fair! Warum tue ich mir das alles an? Ich war Beck doch offensichtlich nicht wichtig genug, mir sein Geheimnis anzuvertrauen.
Ich lasse mich in eine Schneewehe fallen. Es kümmert mich nicht mehr, ob ich nass werde. Und wenn ich hier sterbe!
Der Sturm wirbelt um mich herum, als würde er sich von meinem Elend nähren. Ich habe solches Wetter immer geliebt, aber jetzt ist es, als ob alles sich gegen mich verschwören würde.
Wenn ich Annalise jemals wiedersehe, dann … dann werde ich … Was dann? Weglaufen, damit sie mir nicht wieder die Luft aus der Lunge pressen kann? Was genau kann ich denn überhaupt gegen eine Empfindsame unternehmen?
Ich setze mich auf und schleudere eine Handvoll Schnee von mir. Der Wind ändert die Richtung, und ein zarter Funken Sonnenlicht erstrahlt zu meiner Linken. Ich kneife die Augen zusammen und sehe etwa
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