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Eistochter

Eistochter

Titel: Eistochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Rae Miller
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versuche, die wenigen Informationen zu verarbeiten, die sie mir gegeben hat. Meine Mutter war im Fernsehen und hat um meine unbeschadete Rückkehr gebeten. Als ob ich … entführt worden wäre.
    »Du musst ja ganz verängstigt sein.« Sie tätschelt mir sanft die Hand. »Ich habe den Gesichtsausdruck dieses Jungen gesehen, der auf dem Bahnhof gefasst wurde. Ein verschlagener Bursche! Das sieht man an den Augen.«
    »Auf dem Bahnhof? Maz?«, frage ich. Was geht da vor? Maz ist angeklagt, mich entführt zu haben?
    »Er und all die anderen.«
    Ich lasse mich von ihr zum Scheunentor führen. Plötzlich bleibt die alte Frau stehen. »Was um alles in der Welt …? Wo kommt das denn her?«
    Lange spitze Eiszapfen hängen von Zweigen, als ob sie es darauf abgesehen hätten, den nächsten Passanten zu durchbohren. Der Boden ist von gefährlichem Glatteis überzogen. Ein tödlicher Hindernislauf.
    Wie die Verwüstungen, die der Lange Winter angerichtet hat.
    Dann wird mir auf einmal einiges klar.
    Der Schnee steht in Verbindung mit Annalise – irgendwie kontrolliert sie das Wetter. Jedes Mal, wenn sie in der Nähe ist, scheint sich die eisige, kalte Härte, die sich unter ihrem seidigen Schnurren verbirgt, als tosender Sturm zu manifestieren.
    Nun ergibt alles einen Sinn: der seltsame tanzende Schnee in der Schule, der unerwartete Eissturm, aufgrund dessen der Zug Verspätung hatte – alles Annalise. Das ist ihre Magie.
    Panik steigt in mir auf. Sie hat es auf mich abgesehen.
    »Ich muss weg«, sage ich, während ich den Blick über den Sturm schweifen lasse. Annalise könnte unmittelbar vor dem Tor stehen, und ich würde es noch nicht einmal bemerken.
    »Unsinn.« Die wässrigen blauen Augen der Frau hinterfragen meine Beweggründe deutlicher, als ihre Worte es tun. »Lass uns hineingehen und Miss Greene anrufen.« Sie hält das Handgelenk hoch und zeigt ein blaues Armband – sie hat einen Partner, ist aber keine Staatsfrau, sondern gewöhnliche Arbeiterin. »Dieser Sturm scheint sich irgendwie auf mein Armband auszuwirken. Wir werden vom Wandbildschirm aus anrufen müssen.« Sie lächelt mich wieder an. »Miss Greene wird erleichtert sein zu erfahren, dass es dir gut geht.«
    Mir fällt keine Möglichkeit ein, mich ihr zu widersetzen, ohne ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Und ich möchte dieser Frau nicht wehtun.
    Ich folge ihr blind durch den Schnee zu ihrem Haus. Die Sonne ist jetzt nur noch ein schwach leuchtender Ball hinter dem wirbelnden Weiß. Die Verwandlung von heißem Sommer zu eisigem Winter ist verstörend.
    »Armes Ding! Du zitterst ja wie Espenlaub!«
    Ich strecke die Hände vor mich. Sie zittern, aber das liegt nicht an der Kälte, sondern daran, dass ich in der Falle sitze.
    Die Frau führt mich eine Seitentreppe hinauf und ins Haus. Die Wärme ihrer winzigen Küche heißt mich willkommen und bildet einen scharfen Kontrast zu dem tosenden Sturm draußen. Die Frau deutet auf einen kleinen Tisch, der an einer Wand steht.
    »Setz dich doch.« Sie hebt einen Kessel hoch. »Möchtest du gern Tee?«
    »Ja bitte. Vielen Dank.«
    Meine Gedanken rasen. Ich muss hier weg. Ich darf nicht zulassen, dass sie meine Mutter anruft.
    »Es tut mir leid, dass ich dir nichts zu essen anbieten kann, aber meine Rationen sind eingeschränkt worden, und …« Sie sieht mich entschuldigend an, als ob ich Verständnis haben sollte.
    »Sie haben nicht genug zu essen?«, frage ich. Wie ist das möglich? Der Staat sorgt doch für alle.
    »Nein … natürlich habe ich genug«, stammelt sie und starrt den Tisch an. »Wo sind nur meine Manieren?« Ihre Mundwinkel heben sich leicht. »Ich habe vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Miss Tully.« Sie bietet mir die Hand zum Gruß.
    »Danke, Miss Tully. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich aufzunehmen.«
    »Oh, das ist doch das Mindeste, was ich tun kann, besonders nachdem ich diese Geschichte gesehen habe. Wie diese« – sie verzieht den Mund, als würde sie etwas Unangenehmes schmecken – »Empfindsamen dich einfach mitgenommen haben. Du hattest Glück, dass jemand dein Armband gefunden hat. Wie schlau von dir, einen solchen Hinweis zu hinterlassen!«
    Sie strahlt mich an, beeindruckt von meiner Geistesgegenwart. Es ist das Sicherste, bei dem Entführungsszenario mitzuspielen. Aber mein Herz verkrampft sich. Wie sehr sitzt Maz nun in der Klemme?
    »Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen«, sage ich.
    »Wie eine wahre Anführerin«, erwidert sie, und ihr Lächeln wird

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