Eistochter
schnappe ich mir meinen Rucksack und stecke den Arm hindurch.
Eine Stimme wie Donnerhall ruft nach mir, und ich erstarre: »Lark Greene. Wie kannst du es wagen, Löcher in die Seiten fremder Wohnhäuser zu reißen und all die kalte Luft einzulassen?«
15
Bethina beobachtet mich von der Veranda aus.
Eisiger Schrecken durchströmt meine Adern und lähmt mich. Ich male mir aus, dass Annalise und Callum hinter mir stehen und lachen, während Annalise mich in ihrer Falle aus schwerer Luft einspinnt.
Ich strecke Bethina die Hände entgegen und will sie um Hilfe bitten, aber ich kann mich jetzt doch bewegen. Nichts hält mich auf.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf B. Ist das ein Trick? Wie ist sie vor mir nach Summer Hill gelangt? Sie verlässt unser Haus nur dann für mehr als ein paar Stunden, wenn sie Beck und mich in die Häuser unserer Eltern begleitet. Sie ist noch nie ohne uns verreist. Aber jetzt ist ja auch keiner von uns mehr in der Schule.
Ich zögere, stelle dann einen Fuß dorthin, wo ich die Öffnung vermute, und bewege ihn hin und her, um die unsichtbaren Ränder ausfindig zu machen. Mir ist in den letzten beiden Tagen zu viel zugestoßen, als dass ich jetzt blind durch die Barriere gehen könnte.
»Lark Greene, entweder kommst du jetzt sofort her, oder ich sorge dafür, dass du es sehr bereust.« Bethina richtet sich mit verschränkten Armen hoch auf und wartet.
Jahrelange Erfahrung hat mich gelehrt, dass sie diese Miene nur aufsetzt, wenn sie es ernst meint. Das Grauen lässt nach, und ich schiebe mich durch das Loch. Sobald ich drinnen bin, ertönt ein leises Geräusch wie von einem Reißverschluss. Die Schneeflocken verschwinden, und das hohe Wiesengras streift meine Schultern, als ich auf die Veranda zugehe.
»Schnell. Du hast mich lange genug warten lassen.« Sie dreht sich um und verschwindet durch die Eingangstür.
Ein Luftstoß trifft mich von rechts, dann ein zweiter von links. Sie kitzeln mich am ganzen Körper, tasten sich unter die losen Ränder meiner Jacke vor. Als sie einen Zugang finden, strömen sie wie ein unsichtbarer Mückenschwarm unter meine Kleider.
Was ist das?
Bevor ich es herausbekommen kann, wird das Kitzeln zu einem Knabbern, dann zu Bissen. Ich schlage darauf ein, auf Arme, Beine und Oberkörper, bis sich die Mücken zurückziehen.
Hinter mir höre ich ein Flüstern. Ich wirble herum.
»Wer ist da?« Meine schwache Stimme zittert mehr, als mir lieb ist.
Gedämpfte Stimmen tönen über die Wiese, fließen ineinander und mischen sich mit dem Wind, so dass ich keine einzelnen Wörter ausmachen kann.
Irgendetwas – oder irgendjemand – beobachtet mich aus dem Gras. Mein Pulsschlag beschleunigt sich und dröhnt mir in den Ohren. »Ich kann dich hören. Ich weiß, dass du da bist.«
Ein großer junger Mann tritt auf den Pfad vor mir. Mir stockt der Atem. Selbst in meinem verwirrten Zustand sehe ich, dass er wunderschön ist. Ein ebenmäßiges Gesicht, durchdringend blickende blaue Augen, hellbraune Haare. Die Art von Mann, über die Kyra alle möglichen ungehörigen Bemerkungen machen würde.
Er hebt die Hand, versucht mich aufzuhalten. Ich erstarre.
»Bethina erwartet dich«, sagt er, und sein Tonfall ist schneidend wie ein Rasiermesser. Obwohl er so schön ist, liegt etwas Hässliches in der Art, wie er mich mustert.
Ein Hauch von Hellgelb huscht durchs Gras. Mattes Blau erscheint zu meiner Linken. Ein grünes Glitzern lenkt meine Aufmerksamkeit auf die Stelle hinter dem Mann.
Ringsum hocken Dutzende von Menschen im sich wiegenden Gras. Sie beobachten mich.
Der Mann, der von Kopf bis Fuß in gedämpftes Rot gekleidet ist, strafft die Schultern, als wolle er mich herausfordern.
Mir stellen sich die Nackenhaare auf, und ich weiche einen Schritt zurück. »Ich weiß.«
Mein Blick bleibt an seinem Handgelenk hängen. Wie meines ist es nackt. Also ist er kein vom Staat identifizierter Empfindsamer. Aber wer oder was ist er dann? Und hat er etwas mit den unsichtbaren Moskitos zu tun?
Der Mann starrt mich böse an, bevor er sich wieder ins Gras zurückzieht. Er pfeift ein paar flotte Töne aus einem Lied, das mir irgendwie bekannt vorkommt, und verschwindet.
Ich bewege den Kopf hin und her – er hat sich doch wohl nicht in Luft aufgelöst?
Mein Unbehagen wächst. Da ich es kaum abwarten kann, zu Bethina zu gelangen, renne ich den Rest der Strecke zum Haus. Ich springe die Verandatreppe empor und laufe über die breite Veranda zur unverschlossenen
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