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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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parteilichen Komitee … wir arbeiten gelegentlich zusammen.«
    »Du bist in der Politik?« Eschenbach inspizierte den Inhalt des Kühlschranks.
    Burri winkte ab. »Es geht um medizinische Fragen, um fachliche Belange in Bereichen der Sozialhygiene …«
    »Ein grässliches Wort: Sozialhygiene!«
    »Zudem bin ich seit über zehn Jahren als Vertrauensarzt fürs Sozialdepartement tätig.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte Eschenbach.
    »Ein Nebenjob eben …« Burri zögerte einen Moment. »Den Ärzten geht es heute längst nicht mehr so gut wie früher. Der ganze Spardruck … da lebst du auch als Arzt von Beziehungen.«
    Eschenbach überlegte, von welchen Beziehungen er selbst lebte. Unweigerlich kamen ihm Corina und Kathrin in den Sinn, und die Tatsache, dass es diese Beziehung nicht mehr gab. »Hm«, sagte er.
    Burri drückte auf den Knopf an der Spülmaschine. Beinahe geräuschlos begann sie mit ihrer Arbeit. »Brauchst du noch Kleider?«, fragte er.
    »Ich nehme die von gestern.« Gedankenverloren starrte der Kommissar auf die Umrechnungstabelle für Diabetiker am Kühlschrank. »Ich wusste gar nicht, dass du Probleme mit dem Zucker hast.«
    »Hab ich auch nicht, wieso?«
    »Deswegen.« Mit dem Kinn deutete Eschenbach auf die Liste, auf der die wichtigsten Nahrungsmittel in Broteinheiten angegeben waren. »Ich kenn’s von meinem Vater, als er Altersdiabetes hatte.«
    »Ja, die ist auch nicht für mich …« Einen Moment stockte Burri. Dann meinte er: »Meine Mutter war zuckerkrank. Und jedes Mal wenn sie hier übernachtete, musste ich ihr eine solche Tabelle besorgen.«
    »Ach so.« Eschenbach wunderte sich. Er war selbst auf der Beerdigung von Helene Burri gewesen, vor fünf oder sechs Jahren. Christoph war nicht der Typ, der altes Zeugs lange aufbewahrte. Außerdem sah die Tabelle neu aus.
    »Brauchst du jetzt was zum Anziehen oder nicht?«
    »Nein, danke. Wirklich nicht. Ich habe deine Gastfreundschaft schon genug strapaziert.«
    Eschenbach ging die Treppe hoch ins Gästezimmer und zog seine Sachen an. Das Hemd hatte dunkle Flecken. Es roch nach Rotwein und Schweiß, und ein wenig nach Denise Gloor.
    Nach einer freundschaftlichen Umarmung verließ der Kommissar Burris Villa und erreichte das Bellevue zu Fuß in einer knappen Viertelstunde. Die ganze Stadt war auf Zack. Kein Wunder, es war Samstag, der 24 . Dezember, und die Geschäfte hatten noch offen bis um fünf. Der Limmatquai quoll mit Leuten über; Läden und Boutiquen waren zum Bersten voll. Aus dem Orell Füssli schepperte die ewig gleiche Version von Mahalia Jacksons Silent Night und ein paar Schritte weiter, beim Vorderen Sternen, erklang Ivan Rebroffs Erdbebenbass aus einem Hinterhof. Die Suche nach dem letzten Geschenk hatte apokalyptische Züge angenommen. Eschenbach schlich sich, so gut es ging, an den Massen vorbei Richtung Rathausbrücke. Immer wieder musste er stehen bleiben, weil es staute oder weil er von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Für die fünfhundert Meter bis zum Storchen, die er an normalen Tagen in weniger als zehn Minuten zurückgelegt hätte, brauchte er eine Stunde.
    Als er die letzten Stufen zur Wohnungstür in Angriff nahm, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Verständnis für diejenigen, denen Weihnachten ein Gräuel war, die vor dem Fest flüchteten und um geschmückte Tannenbäume einen großen Bogen machten.
    Vermutlich war es die Einsamkeit, dachte er; und dass man keine Geschenke mehr hatte, das auch. Es frisst einen auf. Der Kommissar hielt inne. Einen Moment lang stand er zwischen zwei Stockwerken auf der frisch gebohnerten Treppe, hielt sich am Geländer fest und atmete tief durch. Es roch nach Wachs und Duftkerzen. Als er weitergehen wollte, ging das Licht aus. Eschenbach fluchte. Die Welt lacht einen aus, wenn man krank ist, dachte er. Dann tastete er sich an der Wand entlang, suchte mit den Füßen die Stufen, maß ihre Tiefe. Die meisten schweren Rückenverletzungen stammen von Stürzen auf Treppen, hatte er einmal gelesen. Gerade bei älteren Leuten. Mit einem »klack« ging das Licht wieder an. Schmucke kleine Leuchter an den Wänden, der Kommissar bemerkte sie zum ersten Mal. In der Flucht der Treppe, die steil nach oben führte, erkannte er seine Tochter. Die klobigen schwarzen Schuhe, dunkle Jeans.
    »Geht es, Papa?«, rief sie.
    »Du?« Eschenbach gab sich einen Ruck und stieg weiter hoch. »Das Licht«, schnaufte er. »Es ist ausgegangen.«
    »Ich hab’s wieder angemacht.«
    »Danke.« Er

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