Eistod
allein«, sagte eine Stimme hinter ihm. Zwei Kabinen befanden sich dort; eine war besetzt. Der Kommissar lauschte überrascht.
»Eschenbach ist nicht gekommen … wie ich dir gesagt habe. Er nimmt die Sache nicht ernst.«
Der Kommissar hielt den Atem an.
»Ist ja auch gut so. Ich würde einfach abwarten, ich seh’s, wenn sich wieder was anbahnt«, sagte der Mann. Es folgte eine Pause.
Obwohl der Harndrang stärker wurde, traute sich der Kommissar nicht, ihm nachzugeben. Er würde nur die Spülung in Gang setzen und seine Anwesenheit verraten.
»Nein, das denke ich nicht …« Die Stimme klang unsicher. »Er wird dasselbe nochmals probieren … Ja, das ist am wahrscheinlichsten. Dass er das Land verlässt, glaube ich nicht.«
Wieder folgte eine kurze Pause. Dann öffnete sich die Tür zum Gang und zwei Männer kamen herein. Sie waren in ein Gespräch vertieft. Einer von ihnen betätigte den Wasserhahn. Es plätscherte.
»Okay, machen wir Schluss …«, kam es aus der Kabine. Eschenbach nutzte die Gelegenheit, lief zur Tür und ging nach draußen. Einen Moment lang stand er im Korridor und überlegte. Geradeaus ging es ins King’s Cave, das erst abends öffnete. Nach einem kurzen Zögern verschwand er in der Damentoilette. Hier konnte er sich einen Moment verstecken. Er hätte den Mann gerne gesehen, einfach um sicherzugehen. Denn die Stimme kannte er: Es war der säuselnde Bariton von Tobias Pestalozzi.
21
»Du sprichst im Schlaf«, sagte Juliet und drückte sich zärtlich an ihn.
»Mmh.« Eschenbach blickte nach der Uhr auf dem Nachttisch; es war kurz vor neun, Sonntagmorgen. Er schloss die Augen und versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern; hinter den Augenlidern auf der Leinwand war’s schwarz. Irgendwas war falsch gewesen.
»Wer ist Hagen?« Juliet strich mit den Fingern zärtlich über seine Lippen. »Du hast immer wieder Hagen gesagt.«
»Tatsächlich?«
»Einmal hast du sogar gerufen: Er muss den Hagen spielen! Richtig geschrien hast du. Und um dich geschlagen hast du auch.«
Es kam ein verschlafenes Murmeln.
»Weißt du’s noch?«
»Ich glaube, ich habe Wagner dirigiert«, sagte er. Die Götterdämmerung , bei den Bayreuther Festspielen. Und Siegfried war Hagen … ich meine Pestalozzi. Aber der hat gar keine Tenorlage, verstehst du? Die verdammten Rollen waren vertauscht … ich glaub, das war’s.«
»Ich versteh überhaupt nichts.«
Beim Frühstück gab der Kommissar die Nibelungen zum Besten, Wagners Version jedenfalls: »Und zum Schluss …« Er biss in ein dick bestrichenes Stück Butterzopf: »Da halten sie den wiedergewonnenen Ring in die Höhe und am Himmel sieht man Walhall in Flammen aufgehen … ein gewaltiger Feuerschein: Das Ende der Götter ist gekommen und Wotans Schicksal hat sich erfüllt.«
Juliet löffelte Erdbeerquark. »Du hast einen Hang zum Dramatischen«, sagte sie und schmunzelte. »Mir gefällt die Geschichte.«
Nachdem sie sich warm angezogen hatten, machten sie einen Spaziergang durch Zürich. Es lag noch immer überall Schnee, aber es schien, als hätte man sich damit abgefunden. Es gab Autos, die steckten schon seit Tagen zugeschaufelt am Straßenrand, und beim Hirschenplatz stand ein Schneemann, dem Zürcher Böög nachempfunden, und wartete mit den dicken Lippen eines Müllsacks auf den Frühling.
Eschenbach brannte es unter den Nägeln. Wo immer sie standen und in welches Schaufenster sie schauten; immer tauchten dieselben Fragen auf, kreisten in einer Warteschlaufe durch sein Gehirn: Welche Rolle spielte Tobias Pestalozzi? Mit wem hatte er telefoniert und wo war Konrad Schwinn? Im Café Schober tranken sie eine dunkle Schokolade, dann verabschiedeten sie sich.
»Du bist so anders?«, hatte Juliet bemerkt, bevor sie ihm nochmals und nochmals einen Kuss gab. »So abwesend … die ganze Zeit schon.«
»Ich muss nachdenken«, murmelte er.
»Über uns?«
»Nein.« Eschenbach lächelte. »Über alles andere.«
Den Rest des Nachmittags verbrachte der Kommissar bei Ewald Lenz. Er war gar nicht erst zu sich nach Hause gegangen. Vom Niederdorf marschierte er schnurstracks Richtung Bellevue, stieg in die Tram und fuhr hoch bis zur Burgwies. Lenz wohnte dort in einer alten Mühle an der Forchstrasse, bei einem Geigenbauer, der ihm eine kleine Zweieinhalbzimmerwohnung untervermietete. Ein winziger Vorgarten gehörte zur Wohnung und eine verwitterte Holzbank, von der aus man das Plätschern des Bachs hören konnte und – sehr leise nur – auch
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