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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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den Verkehr der Stadt.
    Für Ewald Lenz waren Sonntage wie Montage oder Dienstage. »Die meisten Menschen brauchen das Wochenende, um abzuschalten«, hatte der kleine Mann mit dem rötlichen Schnurrbart und den intelligenten Augen einmal gesagt. »Mit Fußball, Benissimo und den Lottozahlen. Das hilft ihnen, die Dinge zu ordnen und wieder zu vergessen.«
    Lenz war anders, er vergaß nichts. Durch eine Laune der Natur versagten bei ihm sämtliche Mechanismen, etwas zu vergessen: Alles, was er las, sah oder hörte – es blieb auf der Festplatte seines Gehirns hängen; hartnäckig wie Fußpilz. Am Wochenende, wenn es im Archiv der Kantonspolizei nichts zu tun gab, waren es die Resultate der Spiele, die er sich merkte. Die Torfolge und die Namen der Torschützen. Vor- und Nachnamen. Auch die Namen jener, die das Tor knapp verfehlt oder eine gelbe Karte erhalten hatten. Er memorierte die Namen der Glücklichen bei Benissimo, die Preise und Beträge, und die Wahrscheinlichkeiten, sie zu gewinnen oder zu verlieren. Bei den Lottozahlen reichte seine Statistik bis ins Jahr 1997 ; damals hatte ihm der Arzt verboten, sich dafür zu interessieren.
    »Mach mit ihm, was du willst«, hatte der alte Stalder ihm mit auf den Weg gegeben, als er in Pension gegangen war und Eschenbach das Kommando übergeben hatte. »Lenz ist genial, aber daneben. Und wenn ihm die Birne überläuft, säuft er sich halb zu Tode.«
    Lenz blieb, weil Eschenbach ihn mochte; weil der Kommissar mit den tagelangen Absenzen leben konnte, die infolge von Alkoholexzessen und gelegentlichen Klinikaufenthalten nicht zu umgehen waren, und weil Lenz der brillanteste Informationsdienstler war, den der Kommissar je getroffen hatte.
    »Du hast abgenommen«, sagte Lenz und nuckelte an seiner Pfeife. »Ich schätze, neuneinhalb Kilo.«
    »Zehn«, sagte Eschenbach.
    Sie saßen draußen auf der Holzbank unter einem Wärmestrahler, eingewickelt in alte Militärdecken.
    »Festtage sind Fresstage … die meisten Menschen nehmen zu.« Lenz sah geradeaus auf den verschneiten Garten. »Hat’s dich erwischt?«
    »Du meinst krank?« Eschenbach überlegte einen Moment. »Nicht wirklich.«
    »Da hast du Glück. Die Wahrscheinlichkeit, sich etwas zu holen, an dem man stirbt, steigt mit fünfzig rapide an. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, das sind die Totmacher. Zweiundachtzig Prozent sterben daran.«
    »An irgendetwas muss man ja sterben … irgendwann«, sagte der Kommissar. Er zündete sich eine Brissago an, paffte und warf das Streichholz hinaus in den Schnee. »Das Leben ist lebensgefährlich.«
    »Ist von Erich Kästner, der Spruch.«
    »Ich weiß.«
    »Und trotzdem findet man kaum Platz in den Altersheimen. Die Leute wollen nicht sterben.«
    »Ich glaube, sie wollen schon – aber sie können’s nicht.«
    »Meinst du?«
    »Was weiß ich?« Eschenbach legte den Kopf in den Nacken. Er fühlte die Wärme, die vom Strahler unter der Dachrinne auf ihn abfiel.
    »Irgendwann ist’s wie mit einer Büchse hart gewordener Guetzli: Man will sie noch probieren, aber man beißt sich die Zähne aus.«
    »Ich nehm’s, wie’s kommt.«
    Lenz nahm ein kleines Stück Holz aus der Jackentasche und werkelte an seiner Pfeife. »Ja, das denke ich auch.«
    Der Garten versank langsam in der Dämmerung und vom Licht der Heizschlange errötete leicht der Schnee.
    »Ich hab frische Tomaten und Basilikum«, sagte Lenz, nachdem sie eine Weile draußen gesessen und geschwiegen hatten. »Ich mach uns was Anständiges.«
    Beim Essen am kleinen Tisch in Lenz’ behaglicher Stube erzählte der Kommissar die ganze Geschichte. Von Winter, seinem verschwundenen Assistenten und dem Toten aus der Limmat. Dass man bei der Leiche Fischgift gefunden und dass man ihm Pestalozzi aufs Auge gedrückt hatte, obwohl er von Anfang an dagegen gewesen war. Er erwähnte die Sache mit den Stadtstreichern, dass die Todesfälle auf der Straße erheblich über dem statistischen Durchschnitt lagen, und zeigte Lenz die SMS von Schwinn. »Natürlich habe ich zuerst gedacht, ich könnte Schwinn nun anhand der Kurzmitteilung ausfindig machen. Jedes Handy hinterlässt Spuren. Aber die SMS kam über einen öffentlichen Provider … also ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie er das gemacht hat.«
    »Ziemlich fit der Junge, was?« Lenz zupfte sich den Schnurrbart.
    »Wir haben alles versucht, Ewald. Kreditkarte, privates Handy, seine Gewohnheiten, Freunde, Elternhaus … einfach alles. Wir sind auf keine einzige brauchbare Spur

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