Eistod
waren dunkler, kälter, als er sie in Erinnerung hatte, und die hohen Wangenknochen ließen Pestalozzi plötzlich alt und hart wirken. Einzig die halblangen, blonden Locken waren dieselben geblieben; und die passten nicht zum Rest.
Und dann staunte Eschenbach nicht schlecht. Pestalozzi hieß in Wirklichkeit Tobias Meiendörfer und war Offizier beim SND, beim Strategischen Nachrichtendienst des Bundes. »Ich weiß nicht, was Sie über Professor Winter wissen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort. »Winter ist einer der weltweit bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der psychotropen Substanzen. Das sind bewusstseinserweiternde Drogen: Im Allgemeinen Alkohol, Rauschdrogen und Medikamente. Beim vorliegenden Fall können wir den Alkohol weglassen.«
Es entstand eine kurze Pause. Eschenbach fühlte sich scheußlich, haderte mit sich und der Welt. Er war gegenüber diesem Pestalozzi von Anfang an skeptisch gewesen. Und doch, was hatte es genützt? Man hatte ihn reingelegt, so viel war jetzt klar. Er kam sich vor wie der letzte Depp.
»Wesentliche Meriten seiner Forschung erzielte Winter in den USA«, fuhr Meiendörfer fort. »Und zwar mit der Entwicklung sogenannter Anti-Carving-Substanzen. Das sind Stoffe, die in das körpereigene Belohnungssystem eingreifen und über biochemische Prozesse das menschliche Verlangen steuern.« Pestalozzi hielt inne und dachte offenbar kurz über das eben Gesagte nach. »Ja, so könnte man sie vereinfachend beschreiben: als Anti-Verlangens-Substanzen.« Er nickte und es sah aus, als gebe er sich selbst recht. »Das ist natürlich Neudeutsch – aber dafür besser verständlich.«
Eschenbach verschränkte die Arme vor der Brust.
»Herr Meiendörfer ist ebenfalls Biochemiker«, sagte Sacher. Und als niemand eine Frage stellte, fügte sie noch hinzu: »Ich verstehe von alldem natürlich genauso wenig wie Sie.«
»Ich kenne nur den Pawlow’schen Hund«, erwiderte Eschenbach trocken. »Dann hört es bei mir auf.«
»Richtig!« Pestalozzi alias Meiendörfer schenkte dem Kommissar ein Lächeln. »Iwan Petrowitsch Pawlow begründete mit seinem weltbekannten Experiment die klassische Theorie der Konditionierung. Er ist sozusagen ein Vorläufer der modernen Verhaltensforschung und auch Begründer diverser Lerntheorien.« Meiendörfer ließ es sich nicht nehmen, das Experiment mit dem Hund zu erläutern. Fast rührte Eschenbach die Begeisterung, mit der er sprach. Andererseits empfand er Meiendörfers Vortrag auch als einen überflüssigen Reflex. Wobei er wieder beim Hund war, bei dem nicht nur der Anblick von Nahrung Speichelfluss auslöste, sondern auch ein beliebig anderer Reiz. Und da Sacher keine Anstalten machte, die Ausführungen abzukürzen, vermutete Eschenbach, dass die Departementvorsteherin den berühmten Hund noch nicht kannte.
»Ein Klingelton zum Beispiel kann die Sekretion von Speichel und anderen Verdauungssäften genauso auslösen. Natürlich nur, wenn dieser regelmäßig der Fütterung vorausgeht.«
Eschenbach dachte an den Klingelton seines Handys, daran, was er bei ihm auslöste, und dass er vergessen hatte, es auf lautlos zu stellen.
»Seit Pawlow, der übrigens 1904 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde, weiß man, dass solche Verhaltensprozesse konditioniert werden können. Beim Futter und dem Klingelton waren es noch optische und akustische Reize, die über einen längeren Zeitraum miteinander verknüpft worden sind, bis sich via Wiederholung ein Kausalzusammenhang im Hirn verankerte. Wohlverstanden, das war vor über hundert Jahren.« Der Beamte unterstrich den Zeitsprung mit einer kurzen Pause. »Die moderne Biochemie eröffnet einem heute ganz andere Möglichkeiten. Solche Prozesse, die bekanntlich über chemische Botenstoffe laufen, lassen sich verändern … und wenn man das konsequent weiterdenkt, natürlich auch steuern. Bei den Anti-Carving-Substanzen zum Beispiel versucht man indirekt oder direkt die Dopaminfreisetzung im Belohnungssystem zu blockieren. Deshalb nennt man sie auch Dopaminantagonisten.«
Eschenbach dachte an Star Wars , an Zellen, die mit Laserschwertern aufeinander losgingen.
Kobler räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe«, sagte sie und massierte sich die linke Schläfe. »Aber erklären Sie uns wenigstens noch, wofür das alles gut sein soll.«
»Der klinische Aspekt … darauf wollte ich gerade kommen.« Meiendörfer strich sich etwas selbstverliebt eine Locke aus der Stirn. Er schien
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