Eistod
Das Gespräch mit Dr. Schwalb und die Fragen, die er Kathrin nicht stellen konnte, nicht stellen durfte. Eschenbach erinnerte sich an den Abend mit Corina. Nachdem sich Kathrins Zustand stabilisiert hatte, waren sie in ein kleines Restaurant gefahren und hatten lange miteinander geredet. Eschenbach hatte sich gewundert, wie vertraut sie sich immer noch waren, auch wenn sie mehr über Kathrin als über sich selbst gesprochen hatten. Und überraschenderweise hatte er den Eindruck, als sei zwischen Wolfgang und ihr nicht mehr alles nur rosarot.
Der Kommissar sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Er musste auf dem Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlafen sein. Leise erhob er sich, ging zu seiner Tochter ans Bett und strich ihr die schwarzen Strähnen aus der Stirn. Sie schwitzte. Einmal zuckten ihre Augenlider und er hatte für einen Moment das Gefühl, sie wache auf. Aber es war nur der flache Atem, der den Brustkorb kaum zu heben vermochte. Es blieb das Bangen und das Hoffen. Während er das bleiche Antlitz seiner Tochter betrachtete, fiel ihm auf, wie schön sie war. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge mit dem zierlichen Näschen und die hohen Wangenknochen, die sie von ihrer Mutter hatte.
Er erinnerte sich daran, wie er ihr stundenlang Geschichten erzählt hatte, damals, als sie sieben oder acht Jahre alt gewesen war. Sie liebte die schönen Feen und Prinzessinnen, Rapunzel und Schneewittchen. Und als er ihr einmal Andersens Das Mädchen mit den Schwefelhölzern vorgelesen hatte – das letzte Streichholz war erloschen und die Kleine in den Himmel zurückgekehrt und von der verstorbenen Großmutter in die Arme genommen worden –, da hatte sie ihn gefragt: »Papa, ist Sterben eigentlich was Schönes?«
Eschenbach wusste nicht mehr, was er darauf geantwortet hatte. Nur die Frage war ihm geblieben. Die Frage und die Erinnerung daran, dass er ihr die letzte Seite des Buches nicht mehr gezeigt hatte: das Bild des kleinen Mädchens, das tot zwischen den Häuserschluchten lag, erfroren im Schnee.
Auf einmal kam dem Kommissar ein grauenhafter Gedanke. Noch ein paarmal strich er mit der Hand über Kathrins feuchte Stirn, dann verließ er das Zimmer.
Im Gang wäre er beinahe von einem heranrollenden Frühstück überfahren worden.
»Um Himmels willen!« Die Schwester, eine stämmige Frau in den Fünfzigern, entschuldigte sich.
»Keine Ursache.« Eschenbach sah auf den Teller mit den Brötchen, Bütterchen, Konfitürchen und dem Joghurt. Plötzlich fiel ihm auf, dass er Hunger hatte. »Ich suche Dr. Schwalb. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
Die Suche nach Dr. Bernhard Schwalb führte Eschenbach durch Treppenhäuser, Glastüren und endlose Korridore. An den Wänden in den Gängen hingen Aquarelle, eingerahmt hinter Glas; Seerosenteiche und Segelschiffe im ersten Stock, Sonnenauf- und -untergänge im zweiten. Zuoberst, unter dem Dach, sinnigerweise Berge: Matterhorn, Allalinhorn und Dufourspitze. Dort fand er auch Dr. Schwalb, im Schwesternzimmer neben dem Brienzer Rothorn.
Der Arzt saß an einem großen Tisch. Auf der weißen Platte vor ihm lagen ein paar Krankenblätter und ein halbes Käsesandwich, daneben stand ein Pappbecher mit Kaffee. »Schon so früh unterwegs?«, fragte er, als Eschenbach auf ihn zukam.
»Darf ich?«
»Nur zu.« Schwalb deutete auf den Stuhl neben sich.
Der Kommissar setzte sich wortlos hin. Einen Moment wartete er in der Hoffnung, der Arzt würde von sich aus was sagen.
Schwalb biss in die zweite Hälfte seines Sandwichs. Kauend bemerkte er: »Sie sehen aus, als hätten Sie hier übernachtet.«
»Hab ich auch.« Eschenbach seufzte. »Und ich würde mich gerne mit Ihnen über die Krankengeschichte meiner Tochter unterhalten.«
»Kein Problem.« Der Mann im weißen Kittel schluckte den letzten Bissen herunter und spülte mit Kaffee nach. »Wenn Sie wollen, können wir auch in ein anderes Zimmer …« Er sah zur Krankenschwester, die am Fenster stand und Reagenzgläser mit Blutproben beschriftete.
»Nicht nötig.«
»Gut.« Schwalb drehte den Stuhl so, dass er dem Kommissar direkt in die Augen sehen konnte. »Es war ein Kreislaufzusammenbruch … der zweite jetzt schon.«
»Ja, ich weiß, Drogen sollen der Grund sein, hat meine Frau gesagt. Aber vielleicht geht es etwas präziser … ich meine, welche Substanzen hat man bei ihr gefunden?«
»Amphetamine im Wesentlichen. Amphetamin und Methamphetamin … Der Arzt machte ein hilfloses Gesicht. »Koks oder Speed vermutlich.
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