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Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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demnächst auch dieses letzte seiner Lieder bald vergessen möge, so wie er alle anderen schon vergessen habe. Elise schmunzelte bei dem Gedanken. Zufällig war das Haus «Drei Römer» auf dem Brief eben das, in dem der Lebensmittelhändler Kahn unten sein Geschäft hatte. Mit «Römern» waren übrigens keine Einwohner von Rom gemeint, sondern Trinkgläser, wie am Namensschild über dem Eingang zu erkennen. Links an dem Sandsteinsockel des schmalen Gebäudes war ein blechernes Schild angebracht, da standen ganz klein die Namen der Bewohner des Hauses und seiner Hinterhäuser eingeprägt. Eine Familie Goldfarb war nicht dabei.
    Elise betrat Kahns Lebensmittelgeschäft. Kahn war einer der Kunden ihres Vaters. Sie kaufte aus Höflichkeit ein paar Rüben. Dann fragte sie den Kahn junior, der bediente, ob er einen gewissen Meyer Goldfarb kenne.
    «Ei sicher», sagte der in jüdisch gefärbtem Frankfurterisch. «Hat früher hier im Hinterhaus gewohnt mitsamt Anhang. Aber der ist vor Jahren schon fort, wie alle, die sich’s leisten können. Bis auf die alte Frau Rothschild. Die hat ja in ihrem Haus auch Platz. Ansonsten, ich mein, wer will denn in einem sechs Fuß schmalen, dunklen Haus wohnen, wenn er woanders was Besseres haben kann? Hier in der unteren Gass wohnen doch nur noch die Armen. Bei uns im Haus finden Sie nur Krankenwärter, Holzträger, Hausierer und Schuhmacher. Schlecht fürs Geschäft, leider. So feine Herren wie der Goldfarb beehren uns nicht mehr. Der jüngste Herr Sohn ist jetzt Gymnasialprofessor, hab ich gehört. Nennt sich Fechner nach seiner Frau, damit sich’s nicht so jüdisch anhört. Und der werte Herr Papa ist im Gesangsverein. Ganz etabliert sind die jetzt.»
    «Und wo sind sie hingezogen?»
    «Mainkai. Schöne Aussicht, eins der ersten Häuser neben der Fahrgasse.»
    Elise war ganz erleichtert. Das war ja besser ausgegangen als gedacht! Um die Zukunft des kleinen Josua musste man sich keine Sorgen machen, wenn der Onkel so bürgerlich situiert war. Kein Wunder, dass die Camberger Verwandtschaft ihn hierhergeschickt hatte. Außerdem, Elise hatte den Jungen in dem einen Tag richtig liebgewonnen. Sie freute sich, dass er wohl doch in Frankfurt bleiben würde. Dann konnte sie ein Auge auf ihn haben und ihn gelegentlich besuchen.
    Huch! Elise strauchelte und hielt sich mit knapper Not an einer Regenrinne fest. Sie hatte den Pudel zu spät gesehen. Einen Pudel mit einem Körbchen im Maul, der allein die Fahrgasse hochlief. Der Schopenhauer’sche Hund, welcher sonst? Das Tier, der einzige Freund des um die Ecke wohnenden Philosophen, war ein stadtbekanntes Wunder an Gelehrsamkeit. Der Pudel pflegte nämlich für seinen Herrn einkaufen zu gehen. Es gab drei Läden, in denen Schopenhauer seinen täglichen Bedarf holte, und für jeden Laden einen speziellen Korb. Wenn Schopenhauer dem Hund einen der Körbe aushändigte, dann wusste der kluge Pudel ganz genau, zu welchem Laden er zu laufen hatte. Und was Schopenhauer dort kaufen wollte, das wiederum wusste der Ladenbesitzer.
    Elise hatte ihr Ziel erreicht. Einen Blick warf sie auf die alte Brücke und den zugefrorenen Main, an dessen Ufern sich inzwischen verschneite Eisschollen aufwölbten. Bald hätten hier selbst die Schlittschuhläufer keine Freude mehr. Am Weihnachtsmarkt hatte gestern jemand behauptet, hinter Offenbach sei der Main schon bis zum Grund durchgefroren.
    Elise sah nach den Namensschildern an den ersten Häusern hinter der Brücke. Bald fand sie den Namen, den sie suchte:
M. Goldfarb, Makler und Rentier, zweiter Stock
. Sie schellte, und nach einer halben Minute öffnete eine silberhaarige Haushälterin in schwarzem Kleid und weißer Spitzenschürze. Ob sie den Herrn Goldfarb sprechen könne, fragte Elise, sie habe ihm eine Nachricht zu überbringen.
    «Das tut mir leid, Frollein. Der Herr Goldfarb ist mit seiner Frau zur Winterkur. In Tabarz in Thüringen. Da fährt er jedes Jahr hin.»
    Wann er zurückkomme?, erkundigte sich Elise.
    «Ach, der wollt ja schon längst wieder da sein. Aber es ist ja dieses Jahr so kalt. Da scheut er die Reise. Er hat winters immer sehr die Bronchitis. Deshalb fährt er ja in die Berge, wo die Luft nicht so verqualmt ist wie hier. – Wollen das Fräulein vielleicht den Herrn Sohn sprechen, den Herrn Fechner, meine ich? Der wohnt im Nebenhaus. Oder richten Sie mir die Nachricht aus. Ich gebe es dann an den Herrn Goldfarb weiter, wenn er zurückkommt.»
    Elise hatte den Brief im Muff stecken und

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