Eisweihnacht
befingerte ihn unschlüssig mit der rechten Hand. Ihn bei der Bediensteten abgeben? Oder lieber bei dem Sohn nebenan? Doch eigentlich wollte sie den Brief gar nicht an Dritte aushändigen. Dazu war er zu wichtig.
«Ach nein, vielen Dank», sagte sie. «Ich melde mich später wieder. Ich bin übrigens die Elise Best vom Grossisten Best im Tuchgaden. Falls der Herr Goldfarb nachfragt, ob jemand für ihn da war.»
«Ich richt’s aus», teilte die Haushälterin mit.
Eigentlich konnte Elise zufrieden sein. Josua musste zwar vorläufig noch bei ihnen bleiben (was ihr so unrecht gar nicht war, nur den Vater würde es ärgern). Doch immerhin konnte sie dem Jungen und dem Vater nun die beruhigende Auskunft geben, dass der unbekannte Onkel existierte und vertrauenswürdig schien. Bestimmt würden die Dinge, sobald der Onkel zurück war, ihren geordneten Gang gehen.
Die Neugierde trieb Elise aber noch zu einer weiteren Erkundigung. Spontan schellte sie beim Weggehen im Nebenhaus bei Fechner. Der Herr Gymnasialprofessor Fechner selbst war nicht im Haus, wohl aber seine Frau. Elise entschuldigte sich für die Störung und fragte die Frau Fechner, ob ihr Mann in Camberg Verwandtschaft habe. Sie habe aus Camberg etwas an Fechner oder Goldfarb auszurichten.
In Camberg? Nein, bestimmt nicht! Von Camberger Verwandtschaft hatte die Dame noch nie gehört.
«Die Leute heißen Anspach mit Nachnamen», präzisierte Elise.
Madame Fechner schüttelte den Kopf. Nein, ihr Mann habe definitiv keine Verwandtschaft namens Anspach. Der Name sei ihr ganz fremd.
Elise verabschiedete sich, begleitet von einem unguten Gefühl. Wie eng konnte denn eine Verwandtschaft zwischen Josuas Eltern und dem Herrn Goldfarb sein, wenn die Schwiegertochter des Herrn Goldfarb den Namen noch nie gehört hatte? Und wenn zugleich Josuas Tante nicht wusste, dass der Herr Goldfarb seit vielen Jahren schon nicht mehr in der Judengasse wohnte? Nun plagten Elise wieder Zweifel, ob für Josua alles so glattgehen würde wie eben noch erhofft.
Das Beste schien ihr jedoch, dem Jungen von ihren Zweifeln erst einmal nichts zu sagen. Dem Vater auch nicht. Nur, dass sie die Adresse des Onkels ausfindig gemacht hatte, würde sie verraten, und dass dieser jedoch im Augenblick im Urlaub in Thüringen sei. Es war ja nicht gelogen. Alles andere war ohnehin Spekulation.
Als sie zu Haus eintraf, wurde Elise schnell klargemacht, dass sie sich derzeit noch um andere Dinge zu kümmern hatte als um das Schicksal des kleinen Josua. «Du hast Besuch», begrüßte sie an der Tür die Tante, mit nervös zitterndem Vogelkopf und etwas vorwurfsvoll. Elise spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Irgendetwas brachte sie auf die Idee, dass es sich bei diesem Besuch um Carl handeln müsse.
Doch als sie die Wohnstube betrat, wo der Besuch auf sie warten sollte, fand sie – wen sonst? – den Pfarrer Gehling vor. Das faltige Gesicht des kleinen, kahlen Herrn leuchtete auf. Er sprang hoch, kam auf sie zu und griff nach ihrer Hand.
Du lieber Gott, jetzt ist es entschieden
, dachte erschrocken Elise. Er sei beglückt zu hören, sprudelte derweil Gehling, dass sein Interesse nicht auf unzugängliche Ohren gestoßen sei. Da sei er auf die Schnelle vorbeigekommen, um sich noch einmal persönlich und unter vier Augen dem lieben Fräulein Elsi vorzustellen (er sagte wirklich Elsi), was ihm freundlicherweise der Herr Papa auch zugestanden habe. Das komme ihr doch hoffentlich gelegen?
«Aber natürlich», hörte sich Elise sagen. «Und ich, äh, ich heiße übrigens Elise. Nicht Elsi.»
«Ach, sicher, verzeihen Sie. Mein Vorname ist übrigens Friedrich.»
Friedrich Gehling. Es klang nicht einmal schlecht, musste Elise zugeben. Und Elise Gehling? Das ging auch. Obwohl sie sich wirklich sehr an Best gewöhnt hatte.
Gehling drückte noch einmal im Stehen ihre Hand, dann ließ er sie los und setzte sich, legte die Hände auf die knochigen dünnen Knie. «Liebe Els–, äh, Elise, ich will Ihnen ein paar Dinge über meine Verhältnisse erzählen. Das ist Ihnen doch recht, oder?»
«Ja, sicher», antwortete Elise. (Etwas anderes blieb ihr ja zu sagen nicht übrig. Aber sie musste zugeben, nett war Gehling, sich so vorsichtig auszudrücken und immer nachzufragen, ob es ihr recht sei.)
Es war nun sehr viel von Geld die Rede. Gehling erklärte ihr, welches Einkommen er als Pfarrer habe, welche Zusatzhonorare in Naturalien er außerdem erhalte, dass er ein wenig Vermögen in Aktien besitze und die
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