Eisweihnacht
soundso hohen Zinsen aus einem kleinen Erbe verzehren könne. Elise hörte den Ausführungen unkonzentriert zu. Sie war nebenbei damit beschäftigt, Gehling zu betrachten, nahm nach und nach alle Eigenheiten seines Gesichts zur Kenntnis, lernte die Runzeln, die Hautunreinheiten kennen, und es war ihr, als müsste sie sich jedes einzelne Haar des Backenbartes einprägen. Würde dies im Lauf der Zeit ein Gesicht werden, das sie gern mochte, oder eines, vor dem ihr grauste oder das ihr einfach nur fremd blieb?
«Sie sehen also, meine Liebe», beendete Gehling seinen Finanzbericht, «es steht alles in bester Ordnung. Die kleine Mitgift, die Ihr Herr Papa Ihnen versprochen hat, die braucht es nicht einmal, damit wir komfortabel leben können. Bescheiden, sicher. Rauschende Feste werden wir nicht jede Woche feiern. Aber doch komfortabel. Was sagen Sie, sind Sie zufrieden?»
«Ja, doch, natürlich», sagte Elise. Oje, hatte sie ihm damit ihr Jawort gegeben? Aber wie hätte sie sonst antworten sollen? Apropos, was war das für eine
kleine Mitgift
, die der Vater versprochen haben sollte? Davon wusste sie nichts.
«Dann darf ich Ihnen jetzt sicher meine Kinderschar vorstellen», sagte beglückt Gehling. Elise spürte heißen Schweiß ausbrechen. Die Kinder waren mit in Frankfurt? Warteten sie jetzt gar hinter der Tür versteckt darauf, ihre neue Stiefmutter kennenzulernen?
Ohne eine Äußerung ihrerseits abzuwarten, holte Gehling einen dünnen Stapel Büttenpapier hervor. Ein regelrechter Stein fiel Elise vom Herzen: Es waren Porträtzeichnungen seiner Kinder. Die drei Jüngsten, sie mochten zwischen zwei und sechs Jahren alt sein, waren gemeinsam abgebildet. Gehling nannte die Namen, und Elise spürte einen Schicksalshauch. Dies waren ja wohl Namen und Menschen, die ihr in der Zukunft lieb und teuer sein würden. Würde sie irgendwann aus tiefstem Herzen «meine Kinder» sagen, wenn sie von ihnen sprach? Wahrscheinlich. Sie merkte ja, wie sie schnell den kleinen Josua ins Herz schloss. Die beiden älteren Gehling-Kinder, ein Junge und ein Mädchen, einzeln abgebildet, waren acht und zehn. Mit dem zehnjährigen Mädchen, es sah sehr keck drein, würde es schwierig werden, ahnte Elise. Sie dachte wieder daran, wie schlecht Schwester Bärbel und sie selbst damals die neue Frau des Vaters aufgenommen hatten. Aber mit den jüngeren Kindern würde es sicher gutgehen.
«Noch etwas muss ich Ihnen sagen», bemerkte Gehling und räusperte sich zweimal. Elise fürchtete, jetzt werde es darum gehen, ob es «nur platonisch» sein sollte oder ob er sie auch allabendlich in seinem Bett erwarte.
«Ich habe übrigens … äh», begann er und räusperte sich nochmals. «Ich hatte bisher immer eine Angestellte fürs Grobe. Sie schläft nicht im Haus, aber kommt jeden Morgen früh und geht abends um sechse wieder. Wenn Sie nichts dagegen hätten, würde ich das gerne so beibehalten.»
«Ich verstehe», sagte Elise. Eine Angestellte alleine würde den großen Haushalt mit den vielen Kindern nicht bewirtschaften können. Allein schon die Wäsche … das hieß, Elise würde im Haushalt viel zu arbeiten haben. So komfortabel würde es nun auch wieder nicht werden, trotz seines guten Einkommens. Aber Arbeit war Elise ja gewohnt.
«Ja, liebe, äh, Elise, das war eigentlich … ich will Sie jetzt erst einmal nicht weiter belästigen, sondern mit Ihren Gedanken alleine lassen.» Er stand auf. Elise murmelte höflichen Protest, doch es war ihr natürlich lieb, dass er jetzt ging. Er war wirklich sehr rücksichtsvoll.
«Ich wollte nur noch sagen … äh, das war alles sehr profan, ich wollte nur noch sagen, dass ich Sie für eine sehr charmante, hübsche Person halte, trotz des kleinen Defekts, und ich habe auch sonst nur Gutes über Sie gehört. Also, äh, ich gehe dann jetzt. Adieu, bis demnächst, wir sehen uns.»
Er nahm seinen Zylinder und ging. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete Elise so tief durch, als hätte sie die ganze Zeit vorher keine Luft bekommen.
Du lieber Himmel. Wie sollte das enden?
Aber das wusste sie doch. Er war nett. Mit Hut sah er sogar jünger aus. Zweifellos gab es schlimmere Schicksale, als mit Gehling und seinen Kindern in Dingelstedt verheiratet zu sein.
Eigentlich
wollte sie zwar nicht. (Oder war sie bloß feige und hatte Angst, von zu Hause wegzuziehen?) Aber ob sie wollte, blieb sich gleich. Sie würde müssen. Nach dem, was der Vater ihr gestern Abend über den Niedergang des Geschäfts
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