Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisweihnacht

Eisweihnacht

Titel: Eisweihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
Vom Netzwerk:
übrig geblieben war nur der schwarze Ledergurt, den er gestern, als Elise ihn zum ersten Mal sah, am Leib getragen hatte. Elise öffnete den Gurt und fand darin den versiegelten Briefumschlag, von dem Marie gesprochen hatte. Was hatte Marie noch gleich berichtet? Ach ja, sie hätte sich zu dem Adressaten des Briefes begeben, dort aber habe man ihnen nicht geöffnet.
    Die Adresse lautete:
An Hrn. Meyer Goldfarb, Haus zu den drei Römern, Judengasse, Frankfurt.
Ah!, dachte Elise. «Bist du denn Jude?», fragte sie den Kleinen vorsichtig, wobei ihr die Frage ein wenig albern vorkam. Denn ein sieben-, achtjähriger Junge, na ja, konnte der überhaupt Jude oder Christ sein? Jedenfalls gehörte so ein Kind nicht aus freier Entscheidung dieser oder jener Religion an. In erster Linie war man in dem Alter Kind und Mensch, und alles andere war nicht so wichtig.
    «Ja, wir sind Juden», bestätigte Josua. «Und meine Eltern haben immer Joschel zu mir gesagt, und der Rabbi sagt, ich heiße Jehoschua, und der Lehrer in der Schule sagt Josua zu mir, das wäre mein Name im Zivilstandsregister, und er hat mir auch gesagt, wenn mich ein Fremder fragt, also besonders wenn es ein Christ ist, soll ich sagen, ich heiße Josua und nicht Joschel.»
    «Das ist aber kompliziert», lachte Elise. «Aber ehrlich gesagt, bei mir ist es so ähnlich. Im Taufbuch steht Carolina Elisabeth, aber in der Familie habe ich nie anders als Elise geheißen, und so unterschreibe ich auch, und dann gab es in der Schule welche, die nannten mich Liese, und ein paar andere nannten mich Elli. – Wie soll ich denn zu dir sagen?»
    «Das ist mir ganz gleich», sagte das Kind. «Du bist so lieb, du kannst mich nennen, wie du willst.»
    Elise schmunzelte und drückte dem Kleinen die Hand.
    «Dann sag ich Josua, weil ich dich so kennengelernt habe. Und manchmal werd ich Joschel sagen, wenn mir danach ist. In Ordnung?»
    «In Ordnung.»
    «Sag mal, Josua, hast du je was von einem Herrn Meyer Goldfarb gehört? Das ist der Name hier auf dem Brief.»
    «Nein», sagte Josua und schüttelte heftig den Kopf. «Ich wusste auch gar nicht, dass ich einen Onkel in Frankfurt habe. Niemand hat mir was davon gesagt. Bloß vorgestern hat die Tante davon angefangen, dass ich zu dem Onkel soll. Und jetzt ist er vielleicht auch tot. Oder wohnt nicht mehr dort. Und ich weiß gar nicht, wo ich hinsoll.»
    «Keine Angst. Zur Not bringen wir dich wieder nach Camberg zu deiner Tante. Aber weißt du, ich gehe jetzt erst einmal selbst zu dieser Adresse und sehe, ob ich nicht doch deinen Onkel dort vorfinden kann. Du aber machst dir keine Gedanken und ruhst dich schön aus, dass du gesund wirst und auch deine Füße heilen. Wenn du was brauchst, fragst du die Marie. Sie kommt gleich wieder hoch. Ich hab mit ihr gesprochen; sie bleibt die nächsten Tage noch hier und kümmert sich um dich. Wir sehen uns später.»
    Elise wuschelte dem Jungen durchs Haar, dann verließ sie mit dem Brief in der Hand das Zimmer und machte sich ausgehfertig.

V or einer Generation waren die Grenztore der Judengasse abgerissen worden, und die Juden hatten sich von der Stadt das Recht erkauft, auch anderswo in der Stadt wohnen zu dürfen. Seitdem war die schmale, sichelförmige Gasse nicht mehr so übervölkert; die Luft und die sanitären Zustände waren besser geworden, und das ganze Ambiente wirkte nun pittoresk statt unangenehm und düster. Es war gar nicht lange her, dass Elise zuletzt hier gewesen war: anlässlich des Lichterfests, das die Juden vor Weihnachten feiern. Am letzten Abend des Festes war Elise, wie es viele Frankfurter zu tun pflegten, trotz der Kälte mit der Tante durch die Judengasse spaziert, um den schönen Anblick der vielen achtarmigen Chanukka-Leuchter in den Fenstern zu genießen. Nebenbei gab es immer Gesang zu hören. Der kam nicht nur aus der Synagoge, sondern aus dem Privathaus des senilen alten Kantors, der immer das gleiche furchtbar traurige Lied in jüdischem Kauderwelsch sang.

    Heute Abend sang der Alte wieder. Schon als Elise sich dem Haus näherte, hörte sie seine erhobene hohle Stimme im Klagelied. Einmal hatte sie sich beim Besitzer des Lebensmittelgeschäftes im Nebenhaus erkundigt, was der alte Mann da eigentlich immer zum Besten gab. Der Lebensmittelhändler meinte, es sei der Psalm 137:
An den Flüssen von Babel saßen wir und weinten.
Er persönlich habe jetzt das Lied auf immer und ewig satt, und er wünsche dem alten Kantor ein langes Leben, aber dass er doch bitte

Weitere Kostenlose Bücher