Eisweihnacht
dürfen. Aber was halfen die Schuldzuweisungen? Das hatte doch niemand ahnen können. Carl … es war wirklich alles andere als ehrenhaft, was er da betrieb. Dieser gezielte Angriff mit unlauteren Mitteln. Dieses Ausnutzen von vertraulichem Wissen aus der Zeit, als er bei Best beschäftigt gewesen war. Aber vor allem: Wie konnte Carl ihr das antun? Wenn er es ihrem Vater heimzahlen wollte, das könnte Elise fast noch verstehen. Aber er riss sie ja mit in den Abgrund. Nein, wenn Carl sich heute so benahm, dann hatte Elise ihm damals schon zu Unrecht vertraut. Dann hatte ihr Vater seine Absichten immer richtig eingeschätzt. Der Schmerz, den sie fühlte, war beißend.
«Insofern», durchbrach der Vater plötzlich Elises Gedanken, «kann es mir beinahe gleich sein, wenn du Geld ausgibst, um hergelaufene Schmarotzer bei uns aufzunehmen und durchzufüttern. Wir sind so oder so ruiniert. Noch ein solches Jahr, und wir müssen Konkurs anmelden. Ich werde frühzeitig aufgeben, sodass ich das Haus noch um eine Leibrente verkaufen kann. Doch ich muss dir sagen, wenn wir davon zu dritt leben sollen, dann wird es eng, verdammt eng. – Übrigens, hast du dir eigentlich überlegt, wie und wann du die Schmarotzer in deinem Zimmer wieder loswerden wirst?»
«Ach, Papa. Lange werden die beiden nicht bleiben. Wir haben ja nun ganz andere Sorgen.»
Er sagte nichts, kehrte ihr den Rücken. Das Gespräch war beendet. Elise erhob sich und wandte sich zur Tür. Sie hätte vorhin ums Leben nicht gedacht, dass sie ihres Vaters Rauch- und Kontorzimmer derart schweren Herzens verlassen würde. Heute Nachmittag, als sie von Gehlings Antrag in die Bredouille gebracht wurde, da hatte sie ja eigentlich noch gar keine Sorgen gehabt.
«Soll ich denn», rief der Vater Elise hinterher, «dem Gehling jetzt nicht doch schon eine definitivere Auskunft geben?»
«Ich schlaf drüber», gab Elise ausweichend zurück.
Was wörtlich genommen ganz und gar gelogen war. Denn schlafen würde sie heute Nacht bestimmt nicht. Sie hatte zu viele Sorgen. Da Elise ihr eigenes Zimmer für Josua und Marie geräumt hatte, würde sie im Übrigen bei der Tante unterkriechen müssen. Es gab zwar noch ein kleines Gästezimmer im Haus. Aber das war in den ganzen letzten kalten Wochen ungeheizt geblieben; falls sie dort übernachtete, würde sie sich den Tod holen.
J osua hatte am nächsten Morgen mäßiges Fieber und Husten. Da er aber willig Nahrung zu sich nahm und ausgerechnet von den Blutorangen gar nicht genug bekommen konnte, hoffte Elise auf einen guten Ausgang seines Brustkatarrhs. Die Frostbeulen und Frostblasen an Füßen und Händen waren natürlich in schlimmem Zustand. Außerdem waren die beiden kleinen Zehen wie auch ein paar Stellen an den Fingern über Nacht schwarz geworden. Der Dr. Hoffmann hatte das bei seinem gestrigen Hausbesuch schon prophezeit: Die Stellen, die weiß statt rot sind, hatte er gesagt, die sind schon abgestorben, und sie werden nach dem Erwärmen schwarz werden und abfaulen. Sein Rat: Füße auf täglich frisches Leinen betten, alle betroffenen Stellen sauber, warm und trocken halten. Sonst könne man nicht viel tun. Binnen drei Wochen würden die Wunden hoffentlich abheilen. An den abgestorbenen Stellen werde es, wenn alles gutgehe, nur Narben geben. Die größte Gefahr sei eine Blutvergiftung. Dann müsse amputiert werden. Der Dr. Hoffmann wollte deshalb täglich zur Kontrolle vorbeisehen.
Elise wusste natürlich nicht, ob Josua bis zur Heilung seiner Füße bleiben würde. Am Morgen fragte sie den kleinen Kerl aus, während sie ihm sein Frühstück einflößte. Marie machte sich derweil in der Küche nützlich. Josua bestätigte, was seine Begleiterin gestern erzählt hatte: Er wäre aus Camberg. So unglücklich, wie das arme Kerlchen nun alles Weitere berichtete, konnte es kaum gelogen sein. Der Vater sei im Sommer gestorben und die Mutter erst ganz kürzlich, und vorgestern Nacht hätten ihn die Verwandten plötzlich in die Post nach Frankfurt gesetzt, wo er einen Onkel habe, den er aber nicht kenne. Wegen eines Pferdeunfalles habe er das letzte Wegstück laufen müssen und dabei sei er müde und verfroren am Wegesrand liegengeblieben, bis ihn plötzlich «ein großes Mädchen», nämlich Marie, geweckt und ihm nach Frankfurt geholfen habe. Sein Bündel hätten sie zurückgelassen, weil Marie es nicht zusätzlich tragen konnte. Es sei aber bloß eine verschnürte Decke mit ein paar Kleidern drin gewesen.
Von Josuas Gepäck
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