Eisweihnacht
Berge aus Altschnee hervor. Deren vom Holz- und Kohlestaub schmutzig gewordene Farbe war nun mit frischem neuem Weiß übertüncht. Alle Geräusche schienen gedämpft.
Während Elise mit hohen Stiefeln und gelüpftem Rock durch den Neuschnee stapfte, spürte sie eine unbestimmte Unruhe. So, als ob sie dabei wäre, einen Fehler zu begehen. Oder hatte sie nur Angst vor dem, was sie erwartete? Sie war auf dem Weg zur Schönen Aussicht, wollte dem Herrn Fechner, dem Sohn des im Thüringer Winterurlaub verstorbenen Herrn Goldfarb, den Brief bringen, den Josua mitgebracht hatte, und mit ihm über den Jungen reden. Aber nun kamen ihr Zweifel. Hieß das nicht die Sache überstürzen? Der Herr Fechner war doch jetzt erst einmal damit beschäftigt, dass sein Vater gestorben war; zudem hatte er Reisevorbereitungen zu treffen, weil er heute nach Thüringen abfahren musste. Und nun kam sie ihm noch mit dieser komplizierten Sache dazwischen, mit einem verstoßenen Waisenkind, das er demnächst aufnehmen sollte, und angeblichen Verwandten in Camberg, von denen er womöglich nie gehört hatte …
Konnte das gutgehen? Sollte sie nicht lieber bis nach Weihnachten warten?
Nun war aber Elise schon fast angekommen. Zögerlich bog sie am Ende der Fahrgasse auf den Kai. Da sah sie halb erschrocken und halb erleichtert: Vor dem fraglichen Haus, in dem Fechners wohnten, war ein Wagen angespannt. Der Fahrer legte eben eine Pelzdecke auf dem Kutschbock aus, schmiegte eine umhäkelte eiserne Wärmflasche in den Pelz. Es musste höchst unangenehm sein, heute reisen zu müssen. Wenn man überhaupt durch den Schnee kam. Wenn doch der Aufbruch so nahe schien, konnte sie den Herrn Fechner wirklich nicht mehr belästigen, oder?
Da trat ein sibirisch bekleideter, schlanker, großer jüngerer Herr mit schwarzen Haaren aus dem Haus, und Elise durchfuhr der nächste Schreck. Du lieber Gott, war das nicht … war das etwa ihr ehemaliger Schwarm aus der Mädchenzeit, der sie «hässliche Hinkeliese» genannt hatte? Der Herr, er war vielleicht fünfzehn Meter von ihr entfernt, schritt die drei Steinstufen herunter auf den Kai und warf dabei einen Blick in ihre Richtung. Ohne nachzudenken, wandte Elise sich um und stolperte durch den Schnee, um möglichst rasch in den Sichtschatten des Eckhauses zur Fahrgasse zu kommen. Da passierte es: Als sie um die Ecke bog, kam ihr von der Fahrgasse aus etwas kleines weißes Felliges rasant schnell in die Quere und unter die nicht so ganz sicheren Füße, und schwumm, hatte sie sich hingelegt. Der Pudel quiekte, dann sprang er hoch und schüttelte sich. Der war es nämlich, über den sie gefallen war: Schopenhauers Pudel, mal wieder ganz allein mit Korb im Maul und einem Päckchen darin unterwegs. Der Korb hatte es überstanden, der Pudel nahm ihn sofort wieder zwischen die Zähne und trabte durch eine geräumte Spur im Schnee davon. Sie aber, Elise, blieb als begossener Pudel zurück. Erst musste sie sich peinlich berührt von einem übereifrigen Passanten hochhelfen lassen und steif und fest beteuern, dass sie wirklich gut alleine laufen könne. (Irgendwie schienen alle Leute ihr das humpelige Bein sofort anzumerken. Dabei redete Elise sich immer ein, man sehe es kaum.) Dann hatte sie Muße, den Schaden zu begutachten. Sie hatte sich in den Dreck gelegt. In einen Haufen Pferdeäpfel und frischen, stechend nach Ammoniak riechenden Pferdeurin, um genau zu sein. Was am allerdümmsten war: Sie hatte den Brief an Goldfarb in der Hand gehabt, in eben der Hand, mit der sie sich mitten in der Pferdebescherung abgestützt hatte. Das sah man dem Brief natürlich an. So ein Mist. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Kleid war sowieso hin, sie versuchte also, das Gröbste mit dem einzig sauberen Ärmel von dem Briefumschlag abzuwischen, aber dabei verteilte sie das Unheil nur. Elise gab es auf und hetzte, den verdreckten Umschlag in der Hand, nach Hause.
Einmal wieder schien die Tante hinter der Tür auf sie gewartet zu haben. «Wo warst du denn jetzt schon wieder? Psst! Gehling ist da und … nein! Du liebe Zeit, wie siehst du denn aus! Und wie du stinkst! Wie ein Pferdestall!»
Elise seufzte. «Ich bin hingefallen. Lass mich, ich will erst mal hoch, mich umziehen.»
«Ja, das musst du auch!», zischelte die Tante. «Du kannst doch unserem Gehling nicht so unter die Augen treten!»
Elise seufzte noch einmal, lief hoch in ihr zum Glück wunderbar warmes Zimmer, wo Josua und Marie sie anders als die Tante nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher