Eiswein (German Edition)
kam ihm so etwas einfach in den Sinn, und er fand es völlig in Ordnung so.
Der Kommissar drehte sich um die eigene Achse und bedachte den Leichenfundort samt der übel zugerichteten Frau mit einem abschließenden, konzentrierten Blick. Er wollte sicher gehen, nichts übersehen zu haben. Fotos waren für ihn lediglich Hilfsmittel, falls er sich bei seinen weiteren Ermittlungen nicht mehr an alles erinnern konnte. Sein Eindruck vor Ort war ihm wichtiger als alle Fotos und Videos der Welt, so gut sie auch sein mochten.
Die Frau auf dem feuchten, frühherbstlich mit einer dicken Schicht aus Moos, Tannennadeln und verrottetem Laub bedeckten Waldboden hatte dunkelblondes, kinnlanges Haar, das jetzt wirr und schmutzig um ihren Kopf lag. Ihre Körpergröße schätzte Walter Braunagel auf Eins Siebzig. Sie lag auf dem Rücken, die Beine waren angewinkelt und zur Seite gedreht, Arme und Hände lagen wie bei einem schlafenden Baby links und rechts neben ihrem Kopf. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen worden, weshalb Braunagel auf die Schnelle ihr Alter nicht zu schätzen vermochte. Der Regen der vergangenen Tage hatte einen großen Teil des Blutes abgewaschen und ließ ihre Verletzungen erschreckend deutlich sichtbar werden. Außerdem hatten sich bereits Tiere über die sterblichen Überreste der Frau hergemacht und deutliche Spuren hinterlassen.
Die Leiche war bis auf ein Paar Turnschuhe an ihren Füßen nackt. Sie trug keinen Schmuck, keine Uhr. Nirgendwo gab es eine Handtasche, ein Kleidungsstück oder etwas anderes, anhand dessen man ihre Identität hätte feststellen können. Sie lag keinen Meter neben einem offensichtlich wenig genutzten Waldweg, der ebenfalls mit einer Schicht aus Tannennadeln über einem dicken Pelz aus Moos bedeckt war. Es gab wenig Unterholz in unmittelbarer Nähe des Fundorts, und nur niedrig wachsende Pflanzen, deren Blätter und Stiele teilweise geknickt waren.
Von dort, wo die Tote lag, konnte man den Weg ein Stück vor und zurück einsehen, bevor er in einer leichten Kurve auf der einen Seite, und hinter einer Kuppe auf der anderen Seite verschwand.
Walter Braunagel war sterbenselend geworden beim Anblick dieser Leiche. Er würde sich nie an solche Situationen gewöhnen.
»Die ist schon etwas länger tot«, hörte er Ralf Kluge vom Erkennungsdienst sagen, der neben ihn getreten war. Braunagel war ihm insgeheim dankbar für die Ablenkung. »Es hat geregnet und war reichlich kühl in den vergangenen Tagen, deshalb sind noch nicht so viele Viecher …«
»Notiert«, unterbrach Braunagel ihn schnell, und erntete ein verständnisvolles Kopfnicken.
»Was ich damit sagen wollte: Es gibt so gut wie keine sofort verwertbaren Spuren nach dem heftigen Regen gestern und vergangene Nacht.«
»Danke.«
»Klar doch.«
»Fuß- oder Reifenspuren irgendwo?«
»Mit der Spurensicherung sind wir fertig«, antwortete Kluge und wies mit dem Kinn auf zwei Kollegen in weißen Schutzanzügen, die gerade ihre Sachen zusammenpackten und zum Auto brachten. »Fußspuren, die wir verwenden könnten, wurden nicht gefunden. Nach Reifenspuren haben wir sowohl hier, als auch vorne auf dem Weg gesucht, aber auch nichts Brauchbares entdecken können.«
»Und das umgeknickte Gewächs hier?«
»Könnte von den Tieren stammen, die vor uns da waren. Das lässt sich nicht mehr so genau feststellen, Braunagel.«
Der nickte nachdenklich.
»Vergewaltigungsopfer? Kampf- oder Abwehrspuren?«, wollte er noch wissen.
»Keine auf die Schnelle erkennbaren Zeichen dafür, hat der Notarzt zumindest gesagt. Das wird die Rechtsmedizin schon noch herausfinden.«
»Die Zeller ist der Meinung, jemand habe ihr etwas aus dem Kopf schlagen wollen.« Es klang eher nach einer Frage als nach einer Feststellung.
»Das mag sein«, gab Kluge zurück. »Die Schläge ins Gesicht wurden mit großer Wucht ausgeführt, als hätte jemand die Frau abgrundtief gehasst. Meiner Meinung nach muss der Mörder sie gekannt haben.« Er schaute einen Augenblick lang auf die Tote und fuhr dann fort: »Das eingeschlagene Gesicht erschwert die Identifizierung der Leiche, man wird nicht einmal so ohne Weiteres das Zahnschema dafür verwenden können. Auch darin könnte ein Grund für diese üblen Verletzungen zu suchen sein, die man ihr beibrachte. Raffiniert ausgedacht, wenn man die Ermittlungen aus irgendeinem Grund verzögern will.« Er legte Braunagel kurz eine Hand auf die Schulter. »Aber nicht geschickt genug, nicht wahr, Herr
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