Eiszeit in Bozen
und blickte dann Vincenzo direkt
in die Augen. »Commissario Bellini, ich möchte, dass Sie eines wissen: Ich
erwarte von meinen Mitarbeitern Engagement, Zuverlässigkeit und Disziplin. Vor
allem, wenn es um die Aufklärung eines möglichen Kapitalverbrechens geht. Aber
ich bin auch ein Mensch, ich habe selbst eine Familie. Ich möchte, dass Sie
sich mir anvertrauen, wenn Sie in persönlichen Schwierigkeiten stecken.
Ungeachtet der Umstände, die ich nicht kenne, glaube ich, dass Ihre Freundin
wieder auftauchen und sich alles von selbst aufklären wird. Das sagt mir meine
Erfahrung. Dass Ihnen das in diesem Moment wenig hilft, verstehe ich.« Er räusperte
sich. »Nun, dann wenden wir uns jetzt den Ermittlungen zu. Es gilt, einen
Todesfall aufzuklären. War es ein Unfall? Oder wieder ein Mord? Was Letzteres
für eine Touristenregion bedeutet, wissen Sie selbst. Machen Sie Paci und
Reiterer Druck! Ich will das so schnell wie möglich vom Tisch haben.
Informieren Sie mich sofort, wenn Sie etwas in Erfahrung bringen konnten. Und
Bellini! Wenn Ihre Gianna auftaucht, sagen Sie mir das bitte auch.«
Nachdem Spurensicherung und Gerichtsmedizin ihre Arbeit beendet
hatten und die Leiche abtransportiert war, fuhr Vincenzo nochmals an die
Talfer. An einem Tatort konnte er sich das mögliche Geschehen am besten
vorstellen, wenn er allein war.
Nachdem er eine Weile dort, wo die Leiche gefunden worden war, am
Flussufer gestanden hatte, ging er die gesamte Laufstrecke von Francesca
Bartoli ab. Niemand begegnete ihm. Als er wieder in seinem Alfa saß, war er
sich fast sicher, dass sie es nicht mit einem natürlichen Tod zu tun hatten.
Allein die Tatsache, dass nirgendwo Kleidungsstücke zu finden waren, sprach
dagegen, dass der Mann freiwillig in den Fluss gegangen war. Natürlich wäre es
immer noch möglich, dass ihn in dem kalten Gebirgswasser ein Herzinfarkt ereilt
hatte oder dass er auf einen Stein gestürzt war. Die Strömung war angesichts
der Wassermassen, die seit Tagen regelmäßig vom Himmel kamen, durchaus stark
genug, einen erwachsenen Menschen mitzureißen.
Alles deutete aber darauf hin, dass Südtirol bald wieder im
Zusammenhang mit einem Kapitalverbrechen in den Medien erscheinen würde. Er war
sehr gespannt, was ihm morgen Paci und Reiterer erzählen konnten.
Auf der Heimfahrt nach Sarnthein dachte er wieder an Gianna.
Wären sie erst kurze Zeit zusammen, würde er sie nicht schon so gut kennen,
dann würde er sich wohl weniger Sorgen machen. Er erinnerte sich an einen
Schulkameraden, dessen Vater manchmal einfach tagelang verschwand. Mitunter
reichte ein harmloser Streit mit der Mutter. Und dann stand er einfach wieder
vor der Tür, so, als wäre nichts gewesen. Solche Typen gab es.
Aber so war Gianna nicht. Sie war charakterstark,
durchsetzungsfähig, wehrhaft. Niemals würde sie einfach abhauen, nur weil ihr
etwas nicht passte. Drei Tage war sie nun verschollen. Morgen musste er
irgendetwas unternehmen. Giannas Freundinnen abtelefonieren, sich in Mailand am
Bahnhof umsehen, dort Pendler, Schaffner, Bahnmitarbeiter befragen. Zu blöd,
dass ausgerechnet jetzt eine Leiche aufgetaucht war. Für private Recherchen
blieb wenig Zeit.
Zu Hause angekommen, zog Vincenzo seine Laufschuhe an. Er brauchte
einen Endorphinschub, um sich von seinen Sorgen abzulenken.
Als er vor die Tür trat, blies ihm wieder dieser eiskalte Wind ins
Gesicht und ihn überkam das beunruhigende Gefühl, eine persönliche Warnung zu
erhalten. Was für ein Blödsinn! Es gab keine Wettererscheinungen, die Menschen
warnten. Er atmete tief durch, zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, dann lief
er los. Nicht gemächlich über die lang gezogenen Serpentinen der kleinen
Straße, die bis zur Sarner Skihütte führte, sondern dem Wanderweg folgend die
steile Wiese hinauf. Wenn er gezwungen war, sich auf seine Atmung zu
konzentrieren, ließen sich diese unangenehmen Gedanken vielleicht besiegen.
Nach wenigen Minuten war ihm, als hätte er Bleigewichte an den
Füßen. An dem kleinen Jesuskreuz kurz vor dem Wald konnte er nicht mehr. Er
blieb stehen und blickte frustriert über die Burg Reinegg zum Villanderberg,
der sich allmählich in Wolken hüllte. Normalerweise liebte er diesen Anblick,
in diesem Augenblick empfand er nichts. Es hatte keinen Zweck. Er konnte nicht
laufen. Ihm fehlte jeglicher Antrieb.
Er fror in seinen dünnen Sportsachen, kraftlos trottete er zurück.
Ohne zu duschen, holte er sich sofort eine Flasche Forst aus dem
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