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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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gelaufen?«
    »Später, Hans, ich muss erst diesen Brief öffnen. Ich habe das
Gefühl, dass ich permanent beobachtet werde wie von einem unsichtbaren Auge.
Das ist beängstigend.«
    Vincenzo riss den Umschlag auf. Ein handgeschriebener Brief, genau
wie die vorigen. »Ich lese dir das vor, Hans. Hör zu:
    Mein lieber Vincenzo,
    leider kann ich nicht auf unseren ersten
Spielzug eingehen, denn diesen Brief habe ich logischerweise vorher verfasst.
So schnell bin selbst ich nicht. Bestimmt war es knapp, habe ich recht? Du bist
gefahren wie ein Berserker, um pünktlich zu sein. So war das auch gedacht,
Vincenzo, mein Held. Es geht keineswegs darum, dich zu ärgern. Im Gegenteil!
Ich möchte verhindern, dass du dich unterfordert fühlst. Du sollst all deine
Talente unter Beweis stellen dürfen, das ist Sinn und Zweck des Spiels. Du
stehst im Mittelpunkt, nicht ich. Ich bin bloß ein Werkzeug, wenngleich ein
nicht ganz unbedeutendes. So wird es auch in Zukunft bleiben. Es ist ein tolles
Gefühl, wenn man es trotzdem geschafft hat, oder? Bei allem, was ich dir in
meiner Funktion als Spielführer auftrage, werde ich deine Limits
berücksichtigen – wie ich meine, sie einschätzen zu können. Ich bin wirklich
gespannt, ob du auf eine unüberwindbare Hürde stoßen wirst oder ob du auch die
letzte Aufgabe ähnlich locker erfüllst wie die erste.
    Kommen wir zu deiner zweiten,
anspruchsvolleren Aufgabe. Ich möchte zu gerne wissen, wie geschickt du bist im
Umgang mit Spielsteinen, die ein Eigenleben besitzen, die lebendig und im
Unterschied zu Schachfiguren zu unvorhersehbaren Spielzügen fähig sind. Das ist
ein faszinierender Unterschied unseres Spiels gegenüber trivialen
Alltagsspielen. Keineswegs würden wir uns mit derlei Banalitäten abgeben, nicht
wahr, mein Freund? Deshalb kannst du den folgenden Spielzug nur mit Hilfe
deiner Spielsteine schaffen. Ich sagte bereits zu Anfang, dass ich nicht mit
ansehen kann, wie unterfordert du stets warst. Zuletzt noch dieser Feuerteufel,
ein kleiner, dummer Junge, der niemandem schaden wollte. Haben wir als Kinder
nicht alle gerne mit dem Feuer gespielt? Meine Güte, wie lange ist das her!
    Bei deiner untrüglichen Intuition ahnst du
sicherlich bereits, was dir das Spiel für deinen nächsten Zug abverlangt:
Morgen wirst du dafür sorgen, dass der arme Teufel (bitte verzeih dieses banale
Wortspiel, es war einfach naheliegend, und ich bin heute in einer schrecklich
albernen Stimmung) freigelassen wird. Ihr könnt ihm wegen ein paar Streichen
doch nicht die Zukunft verderben. Am Dienstag werde ich mir eine Zeitung
kaufen, die »Dolomiten«. Ich würde mich riesig freuen, wenn ich einen
entsprechenden Bericht finden würde. Gebt ruhig zu, dass euch ein paar Fehler
unterlaufen sind – mit »euch« meine ich deine Questura. Besonders schön fände
ich ein Foto von eurem Meisterzündler. Es erhöht den Reiz, wenn er frei ist,
ihn aber jeder Südtiroler auf der Straße identifizieren kann. Finde ich den
Artikel, bekommst du Punkte, und zwar je weiter vorne im Blatt er steht, desto
mehr. Finde ich ihn nicht, bekomme ich fünf Punkte, du eine Strafe. Die müsste
bedauerlicherweise recht hart ausfallen, denn dieser Spielzug stellt hohe
Ansprüche an deine Fähigkeiten. Wer weiß, vielleicht würde sogar dein Einsatz
auf Eis gelegt? Wie gesagt, ich bin heute albern. Dieses wunderbare Spiel
beflügelt mich, ich könnte immerzu lachen. Doch lass dich davon nicht beirren.
    Bis Dienstag, mein Freund, ich werde dich
anrufen, so oder so.
    Dein Freund und Bewunderer
    P.S. :
Vergiss nicht, was ich dir zum Thema Verstärkung gesagt habe. Sobald ich merke – und glaube mir, das werde ich –, dass ihr zusätzliche Kräfte einsetzt, ist
das Spiel beendet. Und damit wäre bedauerlicherweise auch dein Einsatz
verloren.«
    Valentin schüttelte den Kopf. »Mein Gott, an wen bist du nur
geraten? Das ist absolut krankhaft. Wie stellt der sich das denn vor, einen
Straftäter einfach laufen zu lassen?«
    Vincenzo ließ den Brief fallen. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, wenn
wir ihn nicht laufen lassen, passiert ein Unglück. Du hättest sein Opfer aus
der Talfer sehen müssen, wie das zugerichtet war. Der ist zu allem fähig. Er
wartet darauf, dass ich versage, damit er …«
    Vincenzo vergrub das Gesicht in den Händen, ein leises Schluchzen
war zu hören. Er wusste, wie das Spiel enden konnte, schon längst.
    Valentin legte den Arm um die Schultern seines Freundes. »Ihr kriegt
das hin. Beschattet den

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