Eiszeit
Furcht vor Eis.
Das kalte Wasser im Tunnel war so dunkel, als hätte ein Tintenfisch es mit seinen Wolken schwarz eingefärbt. Es wimmelte darin vor Algen, Eisklumpen und anorganischen Partikelchen. Rita konnte das Eis nicht sehen, das in jeder Richtung nur sechs Meter weit von ihr entfernt war, doch ihr war genau bewußt, daß es sie umgab. Mitunter war ihre Furcht so überwältigend, daß ihre Brust anschwoll, ihre Kehle sich zusammenzog und sie nicht mehr atmen konnte. Doch jedesmal, wenn sie am beklemmenden Rand der blinden Panik stand, atmete sie schließlich explosiv aus, sog die metallen schmeckende Gasmischung aus der Sauerstoffflasche ein und wehrte die Hysterie ab.
Frigophobie: Furcht vor Kälte. In dem russischen Taucheranzug fror sie kein bißchen. Ihr war sogar wärmer als irgendwann in den letzten Monaten, seit sie die Eisdecke betreten und die Station Edgeway gegründet hatten. Dennoch wurde sie sich unvermeidlich der tödlichen Kälte des Wassers bewußt. Ihr war völlig klar, daß sie nur von einer dünnen Schicht Gummi und elektrisch beheizten Isolierungsschichten von ihr getrennt wurde. Die russische Technik war beeindruckend, doch wenn die Batterie an ihrer Hüfte erschöpft sein sollte, bevor sie das U-Boot tief unter ihr erreichte, würde ihr sehr schnell die Körperwärme entzogen werden. Die beharrliche Kälte des Meeres würde tief in ihre Muskeln eindringen, in ihr Mark, ihren Körper peinigen und ihren Verstand schnell betäuben...
Tiefer, immer tiefer. Von einer Kälte umschlungen, die sie nicht fühlen konnte. Von Eis umgeben, das sie nicht sehen konnte. Gekrümmte weiße Wände links und rechts von ihr, über und unter ihr, vor und hinter ihr, aber knapp außerhalb ihrer Sichtweite. Sie umgaben und umschlossen sie. Ein Gefängnis aus Eis. Von Dunkelheit und bitterer Kälte durchflutet. Völlig still bis auf das leise Rauschen ihres Atems und das Hämmern ihres Herzens. Unentrinnbar. Tiefer als ein Grab.
Als Rita in die unbekannten Tiefen schwamm, wurde sie sich manchmal des Lichts vor ihr stärker bewußt als bei anderen Gelegenheiten, denn sie dachte wiederholt an den Winter zurück, als sie sechs Jahre alt gewesen war.
Glücklich. Aufgeregt. Unterwegs zu ihrem ersten Wintersporturlaub mit ihren Eltern, die erfahrene Skifahrer und versessen darauf waren, es ihr beizubringen. Der Wagen ist ein Audi. Ihre Eltern sitzen vorn, und sie sitzt allein auf der Rückbank. Sie fuhren in zunehmend weiße und phantastische Bereiche hinauf. Eine gewundene Straße in den französischen Alpen. Ein alabasternes Wunderland überall um sie herum und unter ihnen, prachtvolle Ausblicke auf schneebedeckte Nadelbaumwälder, von Eis überzogene Felsspitzen, die hoch über ihnen auszumachen waren wie die Gesichter der Götter der Menschen der Antike. Fette weiße Schneeflocken, die plötzlich aus dem eisengrauen Nachmittagshimmel fielen. Sie ist ein Kind des italienischen Mittelmeerraums, der Sonne und Olivenhaine und des Meers, auf dem die Sonne flitterte, und ist noch nie zuvor in den Bergen gewesen. Nun rast ihr junges Herz vor Abenteuerlust. Es ist so wunderschön: der Schnee, das steil ansteigende Land, die Täler, die mit Bäumen und purpurnen Schatten bedeckt und mit kleinen Dörfern gesprenkelt sind. Und selbst, wenn der Tod ganz plötzlich kommt, hat er eine schreckliche Schönheit, ganz in strahlendes Weiß gekleidet. Ihre Mutter sieht die Lawine als erste, rechts von der Straße und hoch über ihnen, und schreit beunruhigt auf. Rita schaut durch das Seitenfenster, sieht die weiße Wand hoch auf der Flanke des Berges, doch sie gleitet hinab, wächst dabei so schnell wie eine Sturmwelle, die über das Meer zum Ufer rast, wirbelt Schneewolken auf wie Meeresgischt, zuerst still, so weiß und still und wunderschön, daß sie kaum glauben kann, daß sie sie verletzen könnte. »Wir sind schneller als die Lawine«, sagt ihr Vater und klingt verängstigt, als er das Gaspedal durchdrückt, und ihre Mutter sagt: »Beeil dich, um Gottes willen, beeile dich!«, und sie kommt weiter hinab, still und weiß und riesig und betörend, und sie wird von einer Sekunde zur anderen größer ... Stille ...dann ein kaum hörbares Poltern, wie ein ferner Donner ...
Rita hörte seltsame Geräusche. Hohle, ferne Stimmen. Sie schrien oder klagten. Wie die Stimmen der Verdammten, die sich über einem Seancetisch aus dem Äther meldeten und schwach um Erlösung von ihrem Leiden baten.
Dann wurde ihr klar, daß es
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