Eiszeit
war sie in drei unregelmäßig geformte Ausläufer gespalten, von denen jeder sechs oder acht Meter breit war und zwei bis zweieinhalb Meter unter dem darüber lag. Diese Platten waren scharfkantig und wurden von Rissen durchzogen, wie es auch bei einem Felsufer auf trockenem Land der Fall gewesen wäre. Da weitere zweihundert Meter des Eisbergs — oder sogar noch mehr — sich unter der Wasseroberfläche befanden, konnten die rasenden Sturmwellen nicht völlig unter ihm hindurchgleiten; sie schlugen gegen die drei Vorsprünge, brachen gegen die funkelnden Palisaden und wirbelten gewaltige Wolken aus Gischt und Eis auf.
Wenn Lin von diesem Mahlstrom erfaßt worden war, dann hatte dieser ihn mit Sicherheit in Stücke gerissen. Es wäre vielleicht ein gnädigerer Tod gewesen, wenn er plötzlich in das schrecklich kalte Wasser gestürzt und einen tödlichen Herzanfall erlitten hätte, bevor die Wellen Gelegenheit bekamen, ihn gegen das scharfkantige Eis zu werfen und daran zu zermahlen.
Das Licht bewegte sich langsam zurück und wieder hinauf und enthüllte dabei mehr von der Klippe. Von den drei Vorsprüngen am Grund neigte das Eis sich auf etwa fünfzehn Metern Länge in einem Winkel von schätzungsweise sechzig Grad aufwärts — keineswegs ein völlig steiler Hang, aber immerhin doch so steil, daß lediglich ein erfahrener und gut ausgerüsteter Bergsteiger ihn hätte überwinden können. Knapp sechs Meter unter ihnen verlief ein weiterer Vorsprung parallel zum Eisberg. Er war nur einen bis zwei Meter breit, und darüber hob sich das Eis fast senkrecht bis zu dem Rand der Klippe, an dem sie lagen.
Nachdem Roger Breskin den verkrusteten Schnee von seiner Brille gekratzt hatte, ließ er den Strahl der Taschenlampe über den schmalen Vorsprung unter ihnen gleiten.
Zweieinhalb Meter rechts von ihnen und sechs Meter tiefer lag, bislang von der Dunkelheit verhüllt, George Lin auf dem schmalen Vorsprung, auf den er gestürzt war. Er lag auf der linken Seite, mit dem Rücken an der Klippe und dem Gesicht zum offenen Meer. Sein linker Arm war unter ihm verkeilt, und der rechte lag quer auf der Brust. Er hatte die Haltung eines Fötus eingenommen, die Knie so weit hochgezogen, wie seine behindernde arktische Kleidung es erlaubte, und das Kinn auf die Brust gedrückt.
Roger legte die freie Hand an den Mund. »George!« rief er. »Hörst du mich? George?«
Lin bewegte sich nicht und gab auch keine Antwort.
»Glaubst du, er lebt noch?« fragte Brian.
»Auf jeden Fall. Er ist nicht tief gestürzt. Seine Kleidung ist gepolstert und isoliert. Das hat einen Teil der Wucht des Aufpralls abgefangen.«
Brian legte beide Hände um den Mund und rief George Lins Namen.
Die einzige Antwort kam von dem ständig zunehmenden Wind, und man konnte sich problemlos einreden, daß sein Kreischen von einer ausgelassenen Bosheit war, daß dieser Wind irgendwie die Männer herausforderte, noch einen Augenblick länger am Rand des Abgrunds zu verweilen.
»Wir müssen runter und Lin holen«, sagte Roger.
Brian betrachtete die glatte, senkrechte Eiswand, die sechs Meter bis zum Vorsprung abfiel. »Wie?«
»Wir haben Seile, Werkzeuge.«
»Aber keine Kletterausrüstung.«
»Wir müssen improvisieren.«
»Improvisieren?« sagte Brian erstaunt. »Bist du schon mal auf Berge geklettert?«
»Nein.«
»Das ist Wahnsinn.«
»Keine andere Wahl.«
»Es muß eine andere Möglichkeit geben.«
»Welche?«
Brian schwieg.
»Sehen wir uns die Werkzeuge an«, sagte Roger.
»Wir könnten sterben, wenn wir ihn da hochholen.«
»Können ihn doch nicht einfach liegenlassen.«
Brian schaute zu der zusammengekrümmten Gestalt auf dem Vorsprung hinab. In einer spanischen Stierkampfarena, im afrikanischen Busch, auf dem Colorado, beim Sporttauchen in haiverseuchten Gewässern vor Bimini... an fernen Orten und auf fast jede nur erdenkliche Art und Weise hatte er den Tod ohne große Furcht herausgefordert. Er fragte sich, warum er jetzt zögerte. Praktisch jedes Risiko, das er je eingegangen war, war sinnlos gewesen, ein kindisches Spiel. Diesmal hatte er einen guten Grund, alles zu riskieren: Ein Menschenleben stand auf dem Spiel. War das das Problem? Lag es daran, daß er kein Held sein wollte? Zu viele verdammte Helden in der Familie Dougherty, machtlüsterne Politiker, die für die Geschichtsbücher gelebt hatten.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte Brian schließlich. »Wenn George noch lange dort liegt, wird er
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