Eiszeit
umzubringen, irgendeinen Dougherty — da ist eine Art von Geschichtsbewußtsein mit im Spiel. Einen Psychopathen könnte das wirklich reizen.«
Sie schwiegen.
»Aber wer von uns ist ein Psychopath?« fragte Brian.
»Das kommt einem unmöglich vor, nicht wahr?«
»Ja. Aber glaubst du mir?«
»Natürlich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich mit zwei Hieben auf den Hinterkopf bewußtlos geschlagen und dann außer Sicht geschleppt hast.«
Brian seufzte vor Erleichterung.
»Dieser Druck, unter dem wir stehen ...«, sagte Harry. »Wenn einer von uns schon dicht an der Grenze stand, potentiell unstabil war, aber noch klarkam, war vielleicht nur dieser Streß nötig, um ihn über die Klinge springen zu lassen. Hast du eine Vermutung?«
»Wer es war? Nein.«
»Ich hatte damit gerechnet, du würdest George Lin sagen.«
»Aus welchen Gründen auch immer hat George nichts für mich oder meine Familie übrig. Das hat er ja nun wirklich deutlich klargestellt. Aber was auch immer mit ihm los ist, welche Flausen auch immer er im Kopf hat, ich kann mir nicht vorstellen, daß er ein Mörder ist.«
»Man kann nie sicher sein. Du kannst genausowenig wissen, was in seinem Kopf vorgeht, wie ich. Bei mir ... ist Rita der einzige Mensch, für den ich je die Hand ins Feuer legen würde und dabei nicht die geringsten Zweifel hätte.«
»Ja, alles richtig, aber ich habe George heute das Leben gerettet.«
»Wenn er verrückt ist, würde das für ihn keine große Rolle spielen. Mit seiner verdrehten Logik, die wir nie verstehen werden, könnte das sogar der Grund sein, weshalb er dich töten will.«
Der Wind schaukelte das Schneemobil hin und her. Schnee und Graupel trommelten und zischten auf dem Kabinendach.
Zum ersten Mal an diesem Tag stand Harry am Rand der Verzweiflung. Er war sowohl körperlich als auch geistig erschöpft.
»Wird er es noch mal versuchen?« fragte Brian.
»Wenn er verrückt ist, von dir und deiner Familie besessen, wird er nicht so schnell aufgeben. Was hat er schon zu verlieren? Ich meine, er wird sowieso um Mitternacht sterben.« Brian schaute aus dem Seitenfenster in die aufgewühlte Nacht hinaus. »Ich habe Angst, Harry«, sagte er.
»Wenn du jetzt keine Angst hättest, Junge, wärest du der Verrückte.«
»Hast du auch Angst?«
»Eine ganz beschissene Angst.«
»Du zeigst sie nie.«
»Ich zeige sie nie. Ich mache mir vor Angst einfach in die Hosen und hoffe, daß niemand es bemerkt.«
Brian lachte und zuckte dann zusammen, als ein weiterer stechender Schmerz seine Glieder verkrampfen ließ. »Wer er auch ist«, sagte er, als er sich wieder erholt hatte, »wenigstens bin ich jetzt auf ihn vorbereitet.«
»Du wirst nicht allein sein«, sagte Harry. »Entweder Rita oder ich werden ständig bei dir bleiben.«
»Wirst du es den anderen sagen?« fragte Brian, während er sich die Hände rieb und die noch immer kalten Finger massierte.
»Nein. Wir werden sagen, daß du dich nicht daran erinnerst, was passiert ist, daß du gefallen sein und dir den Kopf an einer hervorstehenden Eiskante gestoßen haben mußt. Das ist besser, als würde dein Möchtegern-Mörder glauben, wir wüßten alles über ihn.«
»Ich hatte denselben Gedanken. Wenn er weiß, daß wir auf seinen nächsten Zug warten, wird er besonders vorsichtig sein.«
»Aber wenn er glaubt, wir wüßten nichts von ihm, wird er beim nächsten Versuch vielleicht unvorsichtig.«
»Wenn er verrückt ist, weil er mich ermorden will, obwohl ich um Mitternacht wahrscheinlich sowieso sterben werde ... dann muß ich wohl ebenfalls verrückt sein. Ich mache mir Sorgen, ermordet werden zu können, obwohl Mitternacht nur noch sieben Stunden entfernt ist.«
»Nein. Du hast einen starken Überlebensinstinkt, das ist alles. Das ist ein Anzeichen von Normalität.«
»Außer, wenn der Überlebensinstinkt so stark ist, daß er mich davon abhält, eine hoffnungslose Situation zu erkennen. Dann ist es vielleicht ein Anzeichen von Wahnsinn.«
»Sie ist nicht hoffnungslos«, sagte Harry. »Wir haben noch sieben Stunden. In sieben Stunden kann alles Mögliche passieren.«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Einfach alles.«
17:00
Wie ein Wal, der eine Bresche in die nächtliche See schlug, tauchte die Ilja Pogodin zum zweitenmal innerhalb von einer Stunde auf. Funkelnde Wasserkaskaden glitten von den dunklen Flanken des Schiffes ab, als es in den Sturmwellen rollte. Kapitän Nikita Gorow und zwei Matrosen kletterten durch die Luke des
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