Ekel / Leichensache Kollbeck
meldet sich deshalb an die vorderste Front, weil er in seiner Suizidneigung darauf hofft, von einer feindlichen Kugel getötet zu werden
.
Betrachtet man den vorliegenden Bericht unter diesem Aspekt, wird klar, daß die lange schon in Erwin Schapers Seele schwelende Selbsttötungsabsicht letztlich erst durch die höchst offizielle Maßnahme der Vollstreckung des Todesurteils verwirklicht wurde
.
Absoluter Nahschuß
Karlheinz Dalgow ist das Muster eines preußischen Offiziers. Er, ein 47jähriger, schlanker, sportlicher Typ mit schwarzem Haar und leicht graumelierten Schläfen, ist Hauptmann der Nationalen Volksarmee, Kompaniechef einer Spezialeinheit des Nachrichtenregiments II, dessen Kasernenanlagen einige Kilometer nordöstlich von Königs Wusterhausen, dem Städtchen im Grünen vor den südlichen Toren Berlins, im Wald versteckt sind. Zusammen mit seiner Ehefrau Jutta, Unterstufenlehrerin, und der 21jährigen Tochter Tamara, Krippenerzieherin, bewohnt er seit 1975 eine geräumige Neubauwohnung in Königs Wusterhausen. Der 23jährige Sohn Ralf eifert dem Vater nach, besucht eine Offiziersschule der Grenztruppen in Löbau. Nur gelegentlich verbringt er die wenigen Urlaubstage zu Hause bei den Eltern.
Eigentlich könnte Karlheinz Dalgow mit sich zufrieden sein: Die Kinder sind erwachsen, stehen fast auf eigenen Beinen. Daß er eine Tätigkeit als Fernmeldemechaniker bei der Post nach einigen Jahren aufgab, um die Offizierslaufbahn einzuschlagen, hält er für eine richtige Entscheidung. Die eigenwillige Welt des Militärs, der Geruch von Uniformen und Waffenöl, der Umgang mit den Soldaten, die Herausforderung seines Ehrgeizes, mit der rasanten Entwicklung des modernen Nachrichtenwesens Schritt zu halten, und die Verantwortung über teure Funk- und Fernschreibtechnik, stärken seinen Glauben, unersetzlich zu sein. Dalgows betagte Mutter, Kommunistin seit ihrer Jugend, ist stolz darauf, daß ihr Sohn als Offizier der Armee des Volkes zur Erhaltung des Friedens und der sozialistischen Errungenschaften beiträgt.
Sicher, sein beruflicher Alltag ist mit dem 8-Stunden-Tag anderer nicht zu vergleichen, die vielen Sonderdienste, Alarmbereitschaften, Urlaubssperren erschweren das Leben. Doch der gute Sold entschädigt für viele Entbehrungen. Zusammen mit den Einkünften seiner Gattin ist ein überdurchschnittliches Lebensniveau gesichert: Auto, Neubauwohnung und ein gelegentlicher Urlaub auf der Krim.
Seit mehreren Monaten belastet Karlheinz Dalgow ein Problem: Schlechtes Gewissen gegenüber Jutta plagt ihn. Ursache dafür ist die heimliche Liebschaft zu einer jüngeren Frau. Das zehrt an seiner Seele. Er fühlt, Gefangener eines zweiten Ichs zu sein, von dem er sich nicht mehr befreien kann, ahnt, wie seine Notlügen, die Abwesenheit von zu Hause mit dienstlichen Belangen zu begründen, eines Tages ein Fiasko heraufbeschwören können. Vertrauen, Familie, Ehe, all das sieht er in höchstem Maße gefährdet. Aber da ist Gisela Hoppe, die hübsche, junge Frau, die er liebt. Vor einem Jahr lernte er sie kennen. Es war kurz nach ihrer Scheidung. Sie veranstaltete im Auftrag ihres Betriebes, dem Berliner VEB Oberbekleidung, im Kinosaal des Nachrichtenregiments eine Modenschau. Vom ersten Augenblick an waren sie ineinander verknallt, erst zaghaft, dann immer stürmischer, bis sie ihre Liebe entdeckten. Ihre geschmackvolle, kleine Wohnung in Wildau, ganz in der Nähe der S-Bahn, wird fortan zum heimlichen Refugium für süße Stunden. Schon bald basteln sie am Traumschloß einer gemeinsamen Zukunft. Und irgendwann will sie ihn ganz für sich haben, ständig und nicht nur gelegentlich für ein paar zärtliche Wochenendstunden im Verborgenen. Ja, das wünscht auch er sich. Doch eine Hürde muß er nehmen: Gisela muß klargemacht werden, den Kontakt zu ihren Verwandten im Westen abzubrechen. Andernfalls verstößt er gegen die ihm aufgebürdeten Sicherheitspflichten. Zuvor erscheint es ihm jedoch wichtiger, sich der Gattin zu erklären.
Aber in den eigenen vier Wänden zerrinnen die Vorsätze, Jutta klaren Wein einzuschenken. Kurzerhand ist die erforderliche Offenbarung verdrängt. Der ansonsten mutige Soldat hält sich feige zurück. Statt dessen bietet er alle Kräfte auf, die Angetraute nichts von seinem anderen Leben spüren zu lassen. Schließlich halten nur noch Lüge und Täuschung die ehelichen Bande zusammen. Das Sexualleben mit der Ehefrau droht zu einer emotionslosen, mechanischen Pflichtkür zu verkommen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher