Ekel / Leichensache Kollbeck
ihr Herz.
Die beiden Leichen versteckt er im Kleiderschank und bedeckt sie mit Textilien.
Innerlich ausgelaugt und körperlich erschöpft läßt sich Erwin Schaper auf die Couch fallen und schläft bis in die Mittagsstunden. Der Gedanke an die Selbsttötung hat ihn die ganze Zeit nicht verlassen. Jedoch will er erst seinen Plan vollenden. In seinen Taschenkalender schreibt er in die Spalte des 30. Dezember die Namen Renate und Sabine, in die des 31. Dezember den Namen Marlene. Und hinter jeden Namen setzt er ein deutliches Kreuz.
Er räumt die Wohnung auf, beseitigt die Spuren des tödlichen Geschehens, zieht sich um und verläßt das Haus: Er hat sich mit Marlene zu einem Spaziergang verabredet. Pünktlich erscheint das Mädchen an der vereinbarten Stelle im Zentrum Eisenachs. Erwin wirkt heiter, gelöst und liebenswürdig. Aber: Marlene kann nicht lange bleiben, wird zu Hause bald wieder erwartet. Hand in Hand schlendert das Pärchen in Richtung Schwanenteich.
„Morgen ist Silvester, und ich soll mit meinen Eltern feiern“, beklagt sie sich.
Erwin wittert die Chance einer passenden Gelegenheit zur Verwirklichung seines tödlichen Plans und schlägt vor: „Feiere doch bei mir. Ich bin sowieso allein!“
„Ist deine Frau mit dem Kind weggefahren?“ fragt Marlene unschuldig und erstaunt.
Da Erwin diese Frage nicht konkret beantworten will, beschränkt er sich auf ein mehrdeutiges Grinsen und raunt Marlene ins Ohr: „Ist das nicht schön für uns? Komm zu mir, wir sind ganz allein, und zu trinken ist genug da!“
„Einverstanden, wir treffen uns 19.30 Uhr am Nikolaitor“, strahlt das Mädchen.
Den Rest des Tages verbringt Erwin mit einem Freund. Sie unternehmen eine feuchtfröhliche Kneipentour, wobei Erwin sich höchst spendabel zeigt: Bis zu seinem Tode muß alles Geld ausgegeben sein. Mit schwerem Kopf sinkt er kurz vor Mitternacht in das eheliche Bett. Tief und traumlos wie ein Murmeltier schläft er bis in den nächsten Vormittag. Nur wenige Meter von seinem Bett entfernt, und nur durch eine zentimeterbreite Holztür getrennt, liegen die beiden toten Körper im Kleiderschrank. Doch das läßt ihn kalt. Seine ganze Gedankenwelt ist jetzt nur noch auf einen einzigen Punkt ausgerichtet: Der Tod Marlenes und sein eigener Tod. Für anderes ist kein Raum mehr in seinem eingeengten Hirn. Nur so verschafft er sich die notwendige innere Gleichgültigkeit, ohne die er die letzten, endgültigen Schritte nicht gehen könnte.
Sonntagabend, 31. Dezember 1967. Erwin trifft verfrüht am Nikolaitor ein. Er hat noch eine halbe Stunde Zeit, bis Marlene zu erwarten ist. Gemächlich, doch rastlos wandert er unzählige Male in weitem Bogen um das Martin-Luther-Denkmal, um die Zeit zu überbrücken. In seinem Kopf toben die Gedanken: Bald wird er Marlene besitzen, ganz für sich allein. Und das bis in den Tod.
Ihm fällt ein, daß er in der Nacht mit Marlene einen Spaziergang zur Autobahnbrücke unternehmen könnte, die sich weit über das Tal spannt und in der Silvesternacht üblicherweise kaum befahren wird. Diesen Ort hält er für geeignet. Von dort will er Marlene in die Tiefe stürzen und ihr dann folgen.
Einige Kinder schießen bereits ihre ersten Silvesterraketen ab. Vermutlich dürfen sie an den mitternächtlichen Blitz- und Knallfreuden der Erwachsenen nicht teilhaben. Doch jetzt ist es ihnen erlaubt, denn seit 18.00 Uhr ist die Polizeistunde aufgehoben. Manche der hell erleuchteten Fenster in den alten Bürgerhäusern erlauben einen Blick in die Stuben. Ausgeschmückt mit bunten Papiergirlanden und Luftballons kündigen sie einen ausgelassenen Jahreswechsel an.
Pünktlich ist Marlene zur Stelle, vergnügt und in froher Erwartung eines besinnlichen Silvesterabends. Eilig und auf kürzestem Wege gehen sie zu Erwins Wohnhaus, denn Marlene fürchtet sich vor den Knallfröschen und Pfeifraketen, die heute Nacht überall im Hinterhalt lauern. Unterwegs fragt sie nochmals, um ganz sicher zu gehen: „Und wir sind wirklich ganz allein?“
Erwin gelingt es bald, sie davon zu überzeugen, daß sie bei ihm zu Hause ungestört sind. Dort angekommen, schaltet er das Radio ein, sucht einen Sender mit Schmusemusik, öffnet eine Flasche Wein und lümmelt sich auf das Wohnzimmersofa. Schnell hat Marlene ihre anfängliche Scheu abgelegt und rückt liebeshungrig dicht an ihn heran.
Nun gehören die nächsten Stunden nur der Liebe. Erst als die Glocken von St. Georg und der Nikolaikirche den Jahreswechsel verkünden und
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