Ekel / Leichensache Kollbeck
Hals stach. Dann hat er ihn wieder herausgezogen und weggeworfen, zumindest fallen lassen. Er ist weitergelaufen und erst später zusammengebrochen.“ „Folglich müßte das Tatwerkzeug doch zu finden sein“, mutmaßt Oberleutnant Kringel.
„Sicher, beginnen Sie mit der Suche gleich am Ortsausgang“, schlägt der Obduzent vor.
Aber dann gibt es noch eine Überraschung: Die Untersuchung des geöffneten Schädels und des in Segmente zerlegten Gehirns fördert aus dem Ende des Stichkanals einen unförmigen, etwa zwei Zentimeter langen, bleistiftstarken Holzsplitter zutage. Der Doktor inspiziert den Fund unter einem Operationsmikroskop: Es ist eindeutig Holunderholz. Er wird nachdenklich und meint: „Also, Mord können wir wohl ausschließen. Aber es kann die Tat eines Verrückten sein, der sich einen dünnen Ast in den Hals gerammt hat. Und beim Herausziehen ist dieses Stück abgebrochen und in der Schädelbasis zurückgeblieben. Unser Tatwerkzeug muß ein simples Stück Holunderholz sein!“
Kringel ist baff: „Danach haben wir natürlich nicht gesucht!“ Der Doktor sinniert weiter: „Tja! Und was halten Sie davon, daß es auch kein Suizid, sondern ein schlichter Unfall war …?“ Kringel schaut den Doktor verwundert und ungläubig an: „Sie meinen, er ist besoffen gegen einen Baum geprallt und hat sich dann dabei einen Ast in den Hals gestoßen?“
„Ja, so ungefähr.“
Der Oberleutnant weiß jetzt, was zu tun ist: Erneut wird das Gelände abgesucht. Nun wird er fündig. Etwa 300 Meter hinter dem Ortsausgang können zwischen meterhohen Holunderbüschen jede Menge Schuhspuren, ja sogar Handeindrücke gesichert werden. Überall abgebrochene Zweige und angewelkte Blätter. Auch Reste angedauten Kartoffelsalats mit Bockwurststücken werden gefunden. Und ausgerechnet dort ragen mehrere abgestorbene, etwa einhalbmeterlange, bleistiftstarke Stämmchen aus dem Boden, offenbar Wurzelausleger der großen Gewächse. Einige von ihnen weisen frische Aufsplitterungen auf. Das alles ist eine reiche Spurenernte. Bald steht fest: Alle Spuren stammen vom selben Verursacher, nämlich dem Melker Seidel. Und weiter: Auch die Erdreichspuren an der Bekleidung des Toten werden sicher diesem Ort zugeordnet.
Erneut setzen sich die Experten zusammen. Diesmal wollen sie an Hand der Spurengutachten den Geschehnisablauf gedanklich rekonstruieren. Eine lebhafte Diskussion entbrennt. Doch schließlich kommen sie zu einem plausiblen Schluß: Der Melker wurde Opfer eines ungewöhnlichen Unfalls, der sich wie folgt zugetragen haben könnte:
Im Zustand erheblicher Trunkenheit kam Edgar Seidel auf seinem Heimweg von der Landstraße ab, stolperte in das dichte Buschwerk, befreite sich von dem entbehrlichen Inhalt seines Magens, kam vornüber zu Fall und stieß dabei mit dem Hals so heftig auf ein aus dem Erdreich ragendes, spitz abgebrochenes Holzstämmchen, daß es sich durch die Halsweichteile bis in den Schädel bohren konnte. Pfählung nennen die Experten diesen Vorgang. Seidel gelang es, das Holzstück aus der Wunde zu ziehen. Dann zwängte er sich durch das Buschwerk zurück auf die Straße, auf der er noch etwa zweihundert Meter zurücklegen konnte, ehe er zusammenbrach und starb.
Fall 3:
Sommer 1964. Ein ländlicher Flecken wenige Kilometer westlich von Jena. Hier lebt der 66jährige Rentner Max Schedlow, ein weit über die Ortsgrenze hinaus bekannter Sonderling. Fast jeder kennt ihn. Wegen seines kauzigen Gebarens wird er mitunter belächelt. Dennoch beansprucht mancher auch gern seine Hilfe, denn Max Schedlow ist ein Sammler. Doch nicht Briefmarken, Münzen oder Bierkrüge haben seine Leidenschaft geweckt. Sein Interesse gilt dem Weggeworfenen, Unbrauchbaren, Defekten. Es scheint, als sei er der Urvater der Wiederaufbereitung.
Schedlow lebt nach dem Grundsatz: Alles kann irgendwer irgendwann einmal gebrauchen. Sein kleines Häuschen, der Schuppen und die Werkstatt sind mit der Zeit zu einem unübersichtlichen Magazin für technischen Krimskrams und alten Hausrat umfunktioniert worden. Selbst der Garten ist vollgestopft mit Krempel aller Art: ausgediente Waschmaschinen, Fahrräder, sperrige Eisenteile, Maschinen, Bauholz und unzählige Innereien ausgeschlachteter Autos statt Blumenkohl und Kopfsalat. In diesem kunterbunten Warenlager lebt der kauzige, alte Max. Und nur er und seine Katzen finden sich in dem sonderbaren Chaos zurecht. Tagsüber im schmuddeligen, blaugrauen Arbeitskittel, den speckigen Filzhut auf dem Kopf,
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