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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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nach § 213 StGB vorzutäuschen. Es gehörte zum allgemeinen Erfahrungsschatz der Bürger, zu wissen, daß die Sicheitsorgane auf dieses „Delikt“ sehr empfindlich reagierten. Das hatte auch Einfluß auf die Veränderung der Verschleierungstechniken bei Tötungsdelikten. So konnte das Verschwinden eines erwachsenen Menschen viel überzeugender begründet werden als durch andere Kaschierungen. Für nahezu die Hälfte der verschleierten Tötungsdelikte dieser Zeit traf in der DDR diese Begehungsweise zu.
    Hätte man vor einigen Tagen nicht die Leiche eines Unbekannten aus dem Havelkanal geborgen, wäre die Wahrscheinlichkeit, den Angaben dieser Vermißtenanzeige Glauben zu schenken, um ein Vielfaches größer gewesen. So aber übergibt die VP-Inspektion Mitte ihre Ermittlungsergebnisse am gleichen Tage der MUK im VP-Präsidium am Alexanderplatz.
    Verantwortlich für die Weiterbearbeitung des Falles in der MUK ist Leutnant Dietmar Lorenz, ein schlanker, wendiger junger Mann von 32 Jahren mit umstrittenem Image. Einerseits provoziert er seine proletarischen Vorgesetzten mit den vermeintlichen Eitelkeiten eines Bourgeois, trägt gern weiße Hemden mit auffälligen Krawatten, schnittige Anzüge mit farblich abgestimmten Kavalierstüchlein, führt häufig einen Stockschirm mit sich und vermeidet, so gut es geht, das Tragen des Parteiabzeichens. Andererseits sichern ihm seine analytischen und psychologischen Fähigkeiten und die exzellente Kenntnis der spurenkundlichen Fachliteratur in der kriminalistischen Untersuchungstätigkeit eine ungeteilte Autorität.
    Die Angaben der Frau Bolke zur Personenbeschreibung ihres Ehemanns überzeugen Leutnant Lorenz, daß der unbekannte Tote aus dem Havelkanal mit dem Vermißten identisch ist.
    Lorenz hält von Beginn an Frau Bolke für den Mörder ihres Gatten. Er erweitert den Tatverdacht sofort, als bekannt wird, daß ihr Geliebter Günter Linke, ein Freund des Vermißten, nicht nur als Kraftfahrer beim Magistrat von Groß-Berlin mit einem schnittigen Wartburg 312 hohe Tiere kutschiert, sondern seit geraumer Zeit auch bei ihr wohnt.
    Seine grauen Zellen arbeiten unaufhörlich, Indizien für seinen Verdacht zu finden. Fragen werfen sich auf: Wie war es ihr möglich, die Leiche mehr als 80 km entfernt, Westberlin umfahrend, bis zum Havelkanal zu transportieren? Hat sie mit ihrem Liebhaber die Tat gemeinsam durchgeführt? Wurde das Dienstfahrzeug zum Transport des Toten benutzt? Könnte der Tatort mit der Wohnung in der Brunnenstraße identisch sein?
    Doch Lorenz weiß, daß alles Denken so nicht weiterhilft. Jetzt muß gehandelt werden. Er veranlaßt die vorläufige Festnahme der beiden Verdächtigen. Doch ihre erste Vernehmung bringt ihn nicht weiter. Alle psychologischen Überredungskünste nützen nichts. Weder Frau Bolke noch ihr Freund Linke äußern sich zu den schwerwiegenden Vorwürfen. Verstockt schweigen sie auf jede Frage. Selbst die Tatsache, daß die Leiche von Lutz Bolke mit einer Waschwanne aus ihrem Hause transportiert wurde, läßt sie äußerlich unberührt. Beide reagieren, wie offenbar vorher abgesprochen, lediglich mit einer einzigen, sich immer wiederholenden Antwort: „Ich sage gar nichts dazu, das müssen Sie mir erst beweisen!“
    Lorenz läßt die sinnlose Vernehmung bald abbrechen. Er kommt zu dem Schluß, eine Aussagebereitschaft der Beschuldigten nur durch das Vorhalten beweiskräftiger Fakten erreichen zu können. Mit dem Kriminaltechniker der MUK, Leutnant Trautmann, der mit ähnlichen kleinen Eitelkeiten behaftet und ebenso alt wie Lorenz ist, fährt er zur Wohnung der Frau Bolke in der Brunnenstraße 154, die seit ihrer Festnahme polizeilich versiegelt ist. Eine intensive Vorahnung, dort auf den eigentlichen Tatort und entsprechende Spuren zu stoßen, veranlaßt ihn zu diesem Schritt.
    Die Brunnenstraße widerspiegelt auf eigene Weise das deutsche Schicksal. Ursprünglich führte sie vom Rosenthaler Platz bis zum S-Bahnhof Gesundbrunnen. Seit dem 13. August 1961 teilt sie die Mauer in nahezu zwei gleichlange Straßenzüge. Jetzt endet sie im Grenzgebiet mit der Hausnummer 50. Rückwärtig zum Rosenthaler Platz beginnt sie nun mit der Hausnummer 138. Jeder Straßenzug ist das Symbol des Endes einer jeweilig anderen Welt. Längst quietscht dort keine Straßenbahn mehr in den ausgefahrenen Schienen, die ebenso langsam verrotten wie die Wohnhäuser. Nur die Buslinie 78, die am Arkonaplatz endet, verbindet die triste Gegend mit dem Stadtkern. So bleibt es

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