El Silbador
ihm. Irgend jemand hatte die Legende aufgebracht, daß er mit dem Teufel im Bunde sei. Und wenn die Korsaren sich auch vor keinem Feinde fürchteten, so waren sie doch abergläubisch.
Leichtere Fälle behandelte Marina mit einer Zartheit, die den Leuten gefiel. Und obwohl Carlos Deste vollerHaß und Mißtrauen gegen sie war, vermochte er doch die anderen nicht von ihrer Schlechtigkeit zu überzeugen. Niemand kannte ja das Geheimnis um diesen Medico; denn Deste und Ojo waren leider vernünftig genug, dem Gebot ihres Kapitäns Folge zu leisten und den Mund zu halten, was sich später bitter rächen sollte.
Marina aber nutzte das Vertrauen, das man ihr jetzt entgegenbrachte, weidlich aus. Sie konnte sich nicht genug tun, von geheimnisvollen Teufeleien eines gewissen Silbador zu erzählen, der vor einigen Monaten noch sein Unwesen in den Pyrenäen getrieben habe. Sie berichtete, daß es ihm gar gelungen sei, den Pfarrer von Bielsa zu behexen. Hinzu kam Michels Fechtkunst. Dann erzählte man sich Wunderdinge von dem Gewehr, das er in jenem Ledertuch unter seiner Hängematte liegen hatte.
So wurde der ahnungslose Mann von Marinas Lügengewebe umsponnen.
Michel lag noch nicht richtig in seiner Hängematte, als er plötzlich das anhaltende Läuten der Sturmglocke hörte. Rasch war er wieder auf den Beinen, trat ans Bullauge und öffnete es. Erstaunt lauschte er in die Nacht hinaus. Kein Lüftchen regte sich. Nicht die leiseste Brise war zu verspüren. Es war beängstigend still.
Er verließ die Koje und ging an Deck. Die »Trueno« lag bewegungslos auf dem Wasser. Die Luft wurde immer drückender, obwohl man sich in der kalten Zone zwischen der Neufundlandbank und dem Golfstrom
befand. Man hielt noch immer direkten Kurs auf Boston. Die augenblickliche Position der »Trueno« war 42 Grad nördlicher Breite und 50 Grad westlicher Länge. Die Leinwand der Segel hing schlaff herunter. Nicht einmal das gewöhnliche Klatschen an den Mast war zu vernehmen. Es war die Ruhe in einer Kirche zwischen Predigt und Gebet.
Die Seeleute jedoch, die die Meere kannten, trauten diesem Frieden nicht. Es war Pedro Virgen, der Steuermann, der mit mächtiger Stimme zuerst die Stille durchbrach.
»An Deck--alle Mann an Deck!« schrie er donnernd durch den Sprechtrichter.
Jetzt setzte ein Trappeln ein wie von aufgeregten Pferden. Dazwischen hörte Michel die erschrockene Stimme des Kapitäns.
»Was soll's, Steuermann? Kriegen wir ein Wetter?« Er betrachtete den klaren Himmel über sich. Der hohe Dom der Sterne schien ungetrübt.
»Capitan«, meinte der Steuermann leise, »beunruhigt die Leute nicht. Wer in diesen Breiten noch nie gefahren ist, kennt nicht die furchtbare Wirkung des atlantischen Zyklons, eines Wirbelsturms, gegen den ein Tornado, ein Taifun oder ein Hurrican wie eine leichte Brise sind.« Da übertrieb er freilich etwas.
Es ist richtig, daß der atlantische Zyklon eine furchtbare Wucht hat und eine kreisende Windbewegung bis zu einem Stundentempo von hundertzwanzig Kilometern entwickelt. Dennoch können auch die kleineren Stürme für ein Segelschiff Tod und Verderben bringen. Der Zyklon entwickelt sich etwa so: es bildet sich ein windstiller Raum, das sogenannte Zentrum. Hier steigtdie warme, oft fast heiße Luft in die Höhe. Die Bewölkung ist beim Beginn so gering, daß man tagsüber die Sonne, nachts die Sterne klar erkennen kann. Manchmal ist die Atmosphäre sogar völlig ungetrübt, wie es hier bei unserem Zyklon der Fall war. Der Seemann nennt die wolkenlose Mitte »das Auge des Sturms«.Die Ausdehnung des windstillen Raums hängt vom Durchmesser des gesamten Zyklons ab. Das windstille Zentrum wird von einem Ring stürmischer Winde umwirbelt, die sich der Mitte spiralförmig nähern. Allerdings drehen sie sich im entgegengesetzten Uhrzeigersinn. Dann steigen die Winde in eben diesem Zentrum auf. Wenn sich der Zyklon bis dahin entwickelt hat, bilden sich schwere Wolken, die bis auf die Wasseroberfläche herabreichen. Nach der Peripherie hin nehmen die Auswirkungen des Wirbelsturmes ab.
Da innerhalb des Zyklons alle Windrichtungen vorkommen, stürzen die Wellen und Wogen des Meeres wild und zügellos durcheinander und bilden einen brodelnden Hexenkessel. Der Seemann nennt dieses pochende Wasser fachmännisch »Kreuzsee«.
Der Sturm — und das ist das Schlimmste — bleibt nicht auf einer Stelle, sondern wandert, wobei man die Himmelsrichtung, in die er sich vermutlich wenden wird, vorher nie feststellen kann.
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