Elantris
Nur Ihr könnt die Schönheit der Stadt erleben und von ihren Meistern lernen. Ihr seid der glücklichste Mann in ganz Opelon!«
Mit bebender Hand rupfte Aanden sich den Schnurrbart aus dem Gesicht. »Und ich hätte es zerstört«, murmelte er. »Ich hätte es zum Einsturz gebracht ...«
Mit diesen Worten senkte Aanden das Haupt und brach weinend zusammen. Raoden atmete erleichtert aus. Da merkte er, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Die Männer unter Aandens Kommando waren mit Steinen und Metallstangen bewaffnet. Dashe und seine Leute betraten den Raum aufs Neue, überzeugt, dass das Gebäude nun doch nicht so bald über ihnen zusammenbrechen würde.
Raoden stand genau zwischen den beiden Parteien. »Halt!«, befahl er und gebot den beiden Gruppen jeweils mit einem erhobenen Arm Einhalt. Sie blieben stehen, wenn auch misstrauisch. »Was soll das?«, wollte Raoden ungehalten wissen. »Hat Taans Erkenntnis Euch denn gar nichts gelehrt?«
»Geht aus dem Weg, Lebensgeist!«, warnte Dashe mit gezücktem Schwert.
»Auf keinen Fall!«, erwiderte Raoden. »Ich habe Euch eine Frage gestellt: Habt Ihr denn gar nichts aus dem gelernt, was sich hier eben zugetragen hat?«
»Wir sind keine Bildhauer«, sagte Dashe.
»Das ist egal«, entgegnete Raoden. »Begreift Ihr denn nicht, welche Gelegenheit das Leben in Elantris euch bietet? Hier sind wir etwas, was niemand dort draußen je erreichen wird: Wir sind frei!«
»Frei?«, spottete jemand aus Aandens Truppe.
»Ja, frei!«, meinte Raoden. »Seit Ewigkeiten kämpfen die Menschen darum, genug zu essen zu haben. Nahrung ist das eine Ziel im Leben, das jeder verzweifelt verfolgt, der erste und letzte Gedanke - als seien wir nichts weiter als Tiere. Bevor ein Mensch träumen kann, muss er essen, und bevor er lieben kann, muss er erst einmal einen vollen Magen haben. Aber wir sind anders! Wenn wir ein wenig Hunger auf uns nehmen, können wir uns von den Banden befreien, die jedes Lebewesen seit Anbeginn der Zeit gefesselt haben.«
Die Männer ließen ihre Waffen ein wenig sinken. Allerdings konnte Raoden nicht mit Sicherheit sagen, ob sie über seine Worte nachdachten oder lediglich verwirrt waren.
»Warum kämpfen?«, fragte Raoden. »Warum Zeit mit Töten verschwenden? Draußen kämpfen sie um Reichtum - Reichtum, der letzten Endes dazu da ist, Nahrung zu kaufen. Sie kämpfen um Land - Land, um Nahrungsmittel anzubauen. Essen ist der Quell allen Zwistes. Aber wir haben keinerlei Bedürfnisse. Unsere Körper sind kalt - wir benötigen kaum Kleidung oder ein Obdach, um uns zu wärmen
-, und sie funktionieren selbst dann noch weiter, wenn wir nichts essen. Es ist erstaunlich!«
Die beiden Gruppen beäugten einander immer noch argwöhnisch. Die philosophischen Argumente konnten nicht ganz mit dem Anblick ihrer Feinde mithalten.
»Die Waffen in euren Händen«, fuhr Raoden fort. »Die gehören in die Welt da draußen. In Elantris erfüllen sie keinerlei Zweck. Titel und Klassenzugehörigkeit sind Vorstellungen, die an einen anderen Ort gehören.
Hört mir zu! Wir sind so wenige, dass wir es uns nicht leisten können, auch nur einen Einzigen zu verlieren. Ist es das denn wirklich wert? Ewig andauernder Schmerz für ein paar Augenblicke, in denen man seinem Hass freien Lauf lassen kann?«
Raodens Worte hallten in dem leeren Raum wider. Nach einer Weile durchbrach eine Stimme die angespannte Stille.
»Ich werde mich Euch anschließen«, sagte Taan und stand vom Boden auf. In seiner Stimme lag ein leichtes Zittern, aber seine Miene war fest entschlossen. »Ich dachte, um in Elantris überleben zu können, müsste ich wahnsinnig sein. Doch der Wahnsinn hat mich davon abgehalten, die Schönheit um mich her zu erkennen. Legt eure Waffen nieder, Männer!«
Sie sträubten sich gegen den Befehl.
»Ich habe gesagt, nieder damit!« Taans Stimme wurde unerbittlich. Seine kleine, dickbäuchige Gestalt hatte auf einmal etwas Achtung gebietendes. »Noch bin ich Euer Anführer!«
»Baron Aanden ist unser Herrscher gewesen«, sagte einer der Männer.
»Aanden ist ein Tor gewesen«, sagte Taan mit einem Seufzen. »Und mit ihm jeder seiner Anhänger. Hört auf diesen Mann! In seinen Argumenten liegt mehr königliche Würde, als es an meinem falschen Hof je gegeben hat.«
»Werft euren Zorn über Bord«, flehte Raoden. »Und lasst mich Euch stattdessen Hoffnung geben.«
Hinter ihm erklang ein Klirren. Dashes Schwert war auf den steinernen Boden gefallen. »Heute kann ich niemanden umbringen«, entschied
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