Elben Drachen Schatten
hatten ihn gewiss die Novizen getragen, aber es gab sehr unwegsame Stellen, an denen dies nicht möglich war.
Schließlich erreichten sie den Schamanen. Er saß auf einer Felsenkanzel, den Blick ins Landesinnere gerichtet. Schneebedeckte Berggipfel waren zu sehen, aber auch grüne Wiesen und Hochwald, der von fruchtbaren Tälern unterbrochen wurde. Ein gewaltiges Panorama eröffnete sich dem Betrachter, viel beeindruckender noch, als es der Blick von der Affenkopf-Festung aus gewesen war.
Das Antlitz des Schamanen war so weiß wie Kalk. Aber seine Züge waren von innerer Ruhe und Gelassenheit geprägt. Er schien Keandir gar nicht zu bemerken. Brass Shelian sprach ihn mit sanfter Stimme an und erklärte, dass der König der Elben nun da sei. Doch noch immer reagierte Brass Elimbor nicht.
Brass Shelian wandte sich an Keandir und schlug vor: »Richtet selbst Eure Stimme an den erhabenen Brass. Vielleicht bemerkt er Euch dann.«
Keandir nickte. Dabei bemühte er sich, das tief empfundene Entsetzen nicht nach außen dringen zu lassen. Der Elbenkönig hatte nämlich sofort erkannt, dass Brass Elimbor sich an diesem Platz niedergelassen hatte, um auf den Tod zu warten. Die Szenerie erinnerte an die Erzählungen über den Tod von Gorthráwen der Schwermütigen, die an der Küste Athranors zurückgeblieben war. Brass Elimbor war damals dabei gewesen, als sie an der Küste Platz genommen hatte, den Blick aufs Meer gerichtet, und er wusste sicherlich mehr über das Ende der elbischen Künstlerin als jeder andere. Schließlich hatte er seinerzeit ihren ewigen Ruheplatz mit Hilfe magischer Mittel so beeinflusst, dass ihr Körper von Verwesung und Aasfressern verschont blieb.
Die Beschwörung am vorangegangenen Tag war offenbar tatsächlich über seine Kräfte gegangen.
»Ihr wolltet mich sprechen, Brass Elimbor«, sprach er den Schamanen an. »Jetzt bin ich hier, und Ihr könnt mir alles sagen, was Ihr mir mitzuteilen habt.«
Ein Ruck ging durch den erschlafften Körper des ehrenwerten Brass. Er wandte den Kopf, musterte Keandir und schien einige Augenblicke darüber nachdenken zu müssen, wen er vor sich hatte, so entrückt war er bereits.
»Keandir!«, murmelte er. Er atmete schwer und richtete seine nächsten Worte an den jungen Schamanen. »Ich möchte mit dem König unter vier Augen sprechen.«
»Ihr seid Euch sicher, dass Ihr nichts braucht?«, fragte Brass Shelian.
»Ja.«
»Wann soll ich zurückkehren?«
»Ihr sollt gar nicht mehr zurückkehren. Ich habe alles, was ich brauche. Lebt wohl und bewahrt alles, was Euch gelehrt wurde.«
Brass Shelian kostete es offensichtlich Mühe, die Fassung zu bewahren, doch wortlos gehorchte er dem Obersten Schamanen der Elben.
Keandir kniete vor Brass Elimbor nieder und nahm dessen Hand. Sie war eiskalt. »Die Beschwörung der Jenseitigen hat Euch zu viel Kraft gekostet«, murmelte der Elbenkönig. »Ihr hättet sie verweigern sollen. Jeder hätte dafür Verständnis gehabt.«
»Jeder hätte den Respekt vor mir verloren, mein junger unwissender König. Unter dem Menschengeschlecht der Alten Zeit gab es hinfällige Greise; unter den Elben hat es so etwas nie gegeben, doch hätte ich mich verweigert oder versagt, wäre ich in den Augen der Anwesenden genau dazu geworden – zu einem kraftlos gewordenen Greis, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist.«
»Die Namenlosen Götter zu beschwören ist eine Anstrengung, die auch die Jüngeren nicht mehr schaffen. Es wäre keine Schande gewesen.«
»Eigentlich war ich sogar schon zu schwach, die Eldran zu rufen …« Er sprach mit leiser Stimme. Er hob die dürre Hand, seine Finger verkrallten sich in Keandirs Gewand, und er zog den König näher an sich heran. »Ich will Euch die Wahrheit sagen, bevor ich selbst nach Eldrana entschwinde.«
»Welche Wahrheit?«
»Ich habe den Kronrat belogen. In Wahrheit hatte ich während der Fahrt von der Insel des Augenlosen zur Küste des Zwischenlands keinen Kontakt zu den drei Sphären der Jenseitigen. Ja, ich habe gelogen, aber die Zukunft des Elbenvolkes ist mir wichtiger als mein makelloser Nachruhm. Darum müsst Ihr die Wahrheit kennen, auch wenn sie so schmerzhaft sein mag wie der unerfüllte Traum von Bathranor …« Brass Elimbor stockte. Die letzten Kräfte schienen aus seinem Körper zu weichen, und Keandir befürchtete schon, dass der Schamane ein Eldran wurde, noch bevor er auszusprechen vermochte, was ihm offenbar so schwer auf der Seele lag. Er schloss die Augen. Sein Atem
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