Elben Drachen Schatten
von komplizierten Strukturen aus blutroten Linien durchzogen. Keandir fragte sich, ob diese Strukturen in Wahrheit magische Zeichen waren, mit einer geisterhaft leuchtenden Farbe aufgetragen, oder ob dieser »Deckenschmuck« tatsächlich der Natur zu verdanken war.
Der weitaus größte Teil der Höhle wurde von einem See eingenommen, dessen Wasser pechschwarz war. Er zeigte kein Spiegelbild.
»Wir sind am Ziel«, sagte der Augenlose. »Der See des Schicksals…«
»Was soll ich tun?«, fragte Keandir.
»Ihr braucht nur in das dunkle Wasser zu schauen«, antwortete ihm der Augenlose. »Und Euer ängstlicher Gefährte mag das Gleiche tun oder zur Seite blicken ― er wird nichts von dem sehen, was Ihr seht, denn jedem ist sein eigenes Schicksal bestimmt.«
»Ich brauche keine Fragen zu stellen?«
»Nein, so eine Art von Orakel ist dies hier nicht. Der See wird Euch alles zeigen, was Ihr wissen wollt – so lange, bis Eure Furcht die Neugier übersteigt!«
Keandir lauschte nach dem schabenden Geräusch, das er auf dem Weg zum See vernommen hatte. Aber auch sein sensibles Elbengehör konnte nichts mehr davon vernehmen.
»Was lässt Euch zögern?«, fragte der Augenlose. »Habt Ihr Euren Mut doch überschätzt?« Wieder dieses hässliche Kichern. »Glaubt mir, im Lauf der Äonen sind Geschöpfe unterschiedlichster Herkunft und Gestalt auf dieser Insel gestrandet und haben auf die eine oder andere Weise den Weg in diese Höhle gefunden. Ihr wärt nicht der Erste, den im Angesicht des dunklen Wassers der Mut verlässt.«
»Bei mir ist dies nicht der Fall!«, versicherte Keandir.
»Vielleicht ist für ein Geschöpf des Lichts die Erkenntnis, dass seine Seele doch ein gewisses Maß an Finsternis enthält, besonders schwer zu ertragen.«
»Euren Spott könnt Ihr Euch sparen.«
»Ganz wie Ihr meint …«
Keandir hatte bisher den direkten Blick auf das dunkle Wasser gemieden. Was war mit ihm geschehen, seit die Hand des Augenlosen sein Haupt berührt hatte? Keandir hatte das Gefühl, dass seit jenem Moment nichts mehr so war wie zuvor. Hatte diese Nachtkreatur die Finsternis, die angeblich in seiner Seele zu finden war, vielleicht erst in ihn hineingepflanzt?
Keandir bemerkte eine Bewegung im dunklen Wasser. Winzige Wellen bildeten konzentrische Ringe.
Dann erschienen Bilder auf der Oberfläche. Die undurchdringliche Schwärze wich. Keandir sah die Kundschafterschiffe zurückkehren, die Prinz Sandrilas losschicken sollte, um herauszufinden, ob dieses Land eine Insel oder ein Kontinent war. Tatsächlich, so berichteten die Elben, gab es nur wenige Seemeilen entfernt einen Kontinent mit blühenden Landschaften.
Weitere Szenen schlossen sich an.
Keandir sah, wie Elbenschiffe in einer der zahlreichen geschützten Buchten jenes Kontinents landeten ― Buchten, die sich hervorragend zur Errichtung von Hafenanlagen eigneten. Das glückliche Gesicht seiner geliebten Ruwen mischte sich in den Bilderreigen. Und die kahlen Köpfe zweier Säuglinge mit spitzen Ohren. Elbenkinder.
Die Zwillinge, von denen der Augenlose behauptet hatte, sie würden das Schicksal des Elbenvolks bestimmen!
Die folgenden Bilder zeigten ihm, wie sich das Land veränderte. Burgen und Städte wuchsen aus dem Boden, Gebäude von so hoher elbischer Baukunst, dass manche von ihnen kaum von der Natur zu unterscheiden waren. Andere waren zitadellenartig, und ihre Zinnen und Türme schimmerten in der Sonne wie Elfenbein.
Eine strahlende Zukunft schien den Elben bevorzustehen, wenn sie sich dazu entschlossen, die fremde Küste zu besiedeln.
Oder waren es nur die Widerspiegelungen seiner eigenen Wünsche, die sich in den Bildern zeigten? Unbehagen machte sich auf einmal in Keandir breit. Die Ursache dafür hätte er nicht benennen können. Vielleicht war es die Ahnung, dass er noch nicht alles gesehen hatte. Sein Puls beschleunigte sich, und eine innere Stimme versuchte ihn dazu zu bewegen, den Blick vom dunklen Wasser abzuwenden.
Das musste die Furcht ein, von der der Augenlose gesprochen hatte.
Plötzlich begannen andere Bilder den Eindruck einer blühenden Zukunft zu überlagern. Niedergebrannte Gebäude. Ruinenstädte. Von unzähligen Toten übersäte Schlachtfelder.
Zuletzt war da eine Gestalt, die ein kuttenartiges Gewand trug. Das Gesicht unter der Kapuze lag zunächst im Schatten, der aber dann von einem hellen Sonnenstrahl verscheucht wurde. Eine tierhafte Fratze wurde sichtbar, bleich, mit pergamentartiger Haut und raubtierhaften Zähnen.
Weitere Kostenlose Bücher