Elben Drachen Schatten
Zeitabständen wiederholen konnte. Aber jetzt zwang ihn seine Neugier dazu, diesen mächtigen Zauber anzuwenden. Er musste sehen, ob Retned sich noch in diesem Kästchen befand. Ein markerschütterndes Stöhnen drang aus dem Behälter, als Grimmon den Bann über seine Lippen gebracht hatte. Das konnte nur das Stöhnen eines Gottes sein. Grimmon wich erschreckt einige Schritte zurück, als er bemerkte, wie sich das Kästchen auf dem Knochenthron langsam, sehr langsam zu öffnen begann. Licht drang aus dem offenen Spalt, weißes und blaues Licht. Aber es strahlte nicht, wie es früher gestrahlt hatte. Das weiße Licht war jetzt eher gelblich und das blaue nicht mehr von dem frischen Blau des Himmels, sondern vom kalten Blau des blauen Nebels, der diese Welt zerfraß. Wieder drang ein Stöhnen aus dem Kästchen - diesmal etwas heftiger, so schien es Edro. Er sah, wie Kiria bleich wurde. Hatte sie Angst? Oder entsetzte sie die Hilflosigkeit ihres Gottes? Nein, Edro vermochte nicht zu erraten, was sich hinter ihrer schönen Stirn, von der sie immer ihre braunen Haare fegte, abspielte. Stück für Stück öffnete sich das Kästchen - es geschah unsagbar langsam. Dann entwich das Lichtwesen, das Retned war, dem Kästchen und schwebte in die Höhe. Aber schon im nächsten Augenblick zerfloss das blaue und weiße Licht zu nichts. Retned war verschwunden.
"Zeige dich, Retned!", rief Grimmon, der ja Kraft seines Zaubers Befehlsgewalt über Retned besaß. Aber das Lichtwesen zeigte sich nicht mehr.
"Retned muss tot sein", stellte Sorin schließlich fest.
"Ztruffylltoijiju!", rief Grimmon da. Die anderen zuckten bei dem Klang dieses seltsamen, wahrscheinlich einer längst vergessenen Sprache entstammenden Wortes zusammen. Viermal rief Grimmon dieses Wort. Dann öffnete sich an einer bestimmten Stelle im Boden des Thronsaals eine vorher unsichtbare Falltür. Einige Stufen führten hinab in die lichtlose Finsternis eines unterirdischen Gewölbes.
"Dort müssen wir hinunter!", rief Grimmon. Er griff nach einer Fackel und ging voran. Auch Edro besorgte sich eine Fackel. Er wollte Grimmon folgen, da bemerkte er Kiria, wie sie versteinert da stand und immer nur auf den kleinen Kasten auf dem Knochenthron schaute. Für sie war ein Weltbild zusammengebrochen.
"Es fällt mir schwer, das zu glauben, was ich sah", erklärte sie, als sie den Dakorier erblickte. Edro nickte.
"In Eurem bisherigen Leben habt Ihr immer nur Retned geglaubt - und nie dem, was Ihr saht und hörtet und was doch so offensichtlich war. Diese Welt stirbt - und mit ihr ihre Götter."
"Vielleicht habt Ihr recht. Alles scheint irgendwann zu sterben - selbst die Götter. Auch Welten scheinen zu sterben - genauso wie ein gewöhnlicher Mensch."
"Sind Leben und Tod nicht lediglich zwei Aspekte ein und desselben? Ist das Leben nicht die Voraussetzung für den Tod und der Tod nicht die Voraussetzung für eine Wiedergeburt?" Sie schwieg und starrte auf den Ort, wo ihr Gott gethront hatte. Aber der war jetzt tot. Er war tot - aber vielleicht nur, um wiedergeboren zu werden? Wurden auch ganze Welten wiedergeboren? Da nahm Edro Kiria bei der Hand und zog sie mit sich.
*
Der lange Gang war düster und gespenstisch. Manchmal war aus der Ferne ein seltsames Geräusch zu hören und dann hielt die Gruppe jedesmal den Atem an. Es war eine Art Kratzen oder Scharren. Vielleicht war es aber auch etwas anderes. Der leise Gang eines Feindes, so glaubte Grimmon. Nein, Retned hätte eine so wertvolle Maschine, die sogar dazu in der Lage war, den Abgrund zwischen den Welten zu überbrücken, niemals unbewacht gelassen! Das Kratzen wurde lauter und kam näher. Unruhig rutschte Lakyrs Katze hin und her. Sie fauchte. Da tauchten gespenstisch und flackernd zwei riesige Facettenaugen aus dem Dunkel auf. Ein riesengroßer Käfer näherte sich ihnen. Er hatte mindestens die Größe eines Pferdes. Seine schrecklichen Zangen holten aus und schnappten nach Grimmon, der aber geschickt auszuweichen verstand. Ein leises Summen ging jetzt von dem titanenhaften Insekt aus. Man hörte, wie die Schwerter aus den Scheiden gezogen wurden. Aber Edro sah sofort, dass es wenig Sinn haben würde, auf den harten Chithinpanzer des Untieres einzuschlagen. An ihm würden ihre Waffen wirkungslos abprallen.
Sie mussten auf den kleinen Kopf des Insekts einschlagen, aber dieser wurde gut von den riesigen, grauenhaften Zangen geschützt.
Da stolperte Grimmon plötzlich und die messerscharfen, mörderischen Zangen
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