Elben Drachen Schatten
Fürst Bolandors Reich rief, um das Land dichter zu besiedeln, auch Cherenwen ist.«
»Sie wird dort sein, da bin ich mir sicher. Sie wird zumindest die Möglichkeit haben, dort zu materialisieren – wenn das für die geisterhafte Erscheinung der dort ansässigen Eldran überhaupt das richtige Wort ist, denn Materie werden sie nicht wirklich.«
Königin Ruwen seufzte. »Offenbar habt Ihr Euch alles gut überlegt«, murmelte sie. Dabei fuhren ihre Hände instinktiv über ihren Bauch, der in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft noch keine Wölbung aufwies. Geliebter Kean, ich hoffe nicht, dass du deinen Sohn Eobal und seine Mutter bald im Geisterland Estorien besuchen musst, um wenigstens einen flüchtigen Blick auf einen ebenso flüchtigen Totengeist erhaschen zu können …
Hauptmann Rhiagon stand an den Zinnen des inneren Burghofs und blickte von dort aus auf den äußeren Hof hinab, wo er die Königin und Herzog Branagorn ins Gespräch vertieft daherschreiten sah. Seine Linke umfasste den Griff des Schwerts, die Rechte berührte die Einhandarmbrust an seinem Gürtel. Rhiagon hatte seinen Dienst wieder aufgenommen. Zwar im alten Rang, aber nicht als Kommandant der Einhandgarde, denn dieser Posten war inzwischen anderweitig besetzt. Doch Rhiagon war froh, sich überhaupt wieder als vollwertiger Elbenkrieger fühlen zu können – und nicht als jemand, der bedauernswert von der Hilfe anderer abhängig war.
Mit Stolz trug er das Rangzeichen an seinem Wams. Aber in all die optimistischen Zukunftsaussichten mischte sich auch ein deutliches Unbehagen. Er fühlte fast ständig einen unangenehmen Druck in der Magengegend und hatte deswegen sogar schon die Heilerin Nathranwen konsultiert, die jedoch keine Ursache dafür zu finden vermochte.
Beiläufig bemerkte Rhiagon den Schlag von Flügeln. Er wusste, dass es ein Rabe war, und fragte sich gleichzeitig, ob sein Gehör diese besondere Feinheit der Unterscheidung wohl behalten würde, wenn er weiterhin die künstlichen Augen nutzte und damit auf die Ohren nicht mehr so angewiesen war wie zu der Zeit, da er blind gewesen war.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Rhiagon den Raben auf dem Pflaster des Burghofs landen, vermutlich um zwischen den Fugen Regenwürmer herauszupicken. Er kümmerte sich nicht weiter um das Tier und drehte ihm den Rücken zu.
»Ihr scheint zufrieden mit Eurem neuen Gesichtssinn zu sein«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Rhiagon erkannte sie sofort und erschrak bis ins Mark. Er drehte sich herum. Der Rabe war verschwunden, und Rhiagon fragte sich, woher die Elbengestalt mit den bernsteinfarbenen Haaren so plötzlich aufgetaucht war.
»Zerolas!«, stieß der Hauptmann hervor.
»Schön, dass Ihr Euch noch an meinen Namen erinnert.«
»Ich habe Euch eine ganze Weile nicht in Elbenhaven gesehen.«
»Aber ich war immer da und habe Euch umgekehrt sehr wohl gesehen, mein Freund!«
»Und jetzt? Was wollt Ihr?«
»Ich bin gekommen, um Euch meinen Preis zu nennen. Oder gedenkt Ihr, Euch von den Augen wieder zu trennen? Ich bin im Übrigen gewiss, dass es keine Schwierigkeit für Euch bedeuten dürfte, diesen Preis zu bezahlen – so Ihr den Willen dazu habt!«
Ein tiefes Unbehagen erfasste Rhiagon. Er fühlte eine gewisse Scheu, den Händler überhaupt näher spezifizieren zu lassen, worin der Preis nun eigentlich bestand. Andererseits ließ sich die Neugier in ihm kaum noch bändigen. »Da ich keine Reichtümer angehäuft habe, nehme ich an, dass Ihr eine Gegenleistung in anderer Form von mir erwartet, Zerolas«, äußerte er schließlich Rhiagon.
»Gewiss. Und es ist nichts, das nicht mit Eurem Handwerk zu tun hätte.«
»Welchem Handwerk?«
»Dem Handwerk des Tötens, werter Hauptmann. Denn Ihr seid doch ein Krieger.«
Und während Zerolas dann mit leiser, fast flüsternder Stimme weitersprach, wurde Rhiagon schreckensbleich, so als hätte ihn ein leibhaftiger Maladran und nicht ein einfacher Nordbergener Händler angesprochen.
Admiral Ithrondyr kehrte von seiner Fahrt nach Naranduin mit bedrückenden Nachrichten zurück. Die Königin empfing ihn im großen Audienzsaal. Herzog Branagorn war ebenso anwesend wie Hauptmann Rhiagon, dem man inzwischen das Kommando der Burgwache übertragen hatte, nachdem der vorherige Inhaber dieses Amtes einen Anfall unerklärlichen Schwermuts erlitten hatte, der als Vorstufe des Lebensüberdrusses galt. Nach Angabe seines Heilers bräuchte eine erfolgreiche Behandlung zwischen einem und zehn
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