Elben Drachen Schatten
er in der Lage ist, das Elbenreich zu führen.«
»Und wenn man doch noch einmal mit Prinz Andir sprechen würde?«, fragte Branagorn. »Er war der Held der Schlacht am Elbenturm, das hat sich längst herumgesprochen. Sein Ansehen in der Elbenheit dürfte größer sein als die irgendeines anderen lebenden Elben, abgesehen vielleicht vom König selbst.«
»Andir hat vor langer Zeit einen anderen Weg gewählt«, sagte Ruwen fast wie abwesend. Ihr Blick war tränenumflort. Sie konnte es nicht verhindern, dass das Gefühl der Trauer übermächtig wurde. »Es ist den Weg des Geistes gegangen, und dieser Weg schließt es gewiss für ihn aus, dass er jemals so etwas wie König werden könnte. Er sucht die Vervollkommnung, und ich hatte bei den spärlichen Treffen mit ihm manchmal den Eindruck, dass er nur noch bedingt in dieser Welt zu Hause ist, die uns als das Diesseitige erscheint.«
»Ihr müsst es jetzt offenbaren«, mischte sich nun die Heilerin Nathranwen ein, die ebenfalls anwesend war, weil sich die Königin schon vor Beginn der Zusammenkunft nicht gut gefühlt und daher ihre Anwesenheit gewünscht hatte. Sie hatte nicht vor den versammelten Kommandanten, Wächtern, Kapitänen, Chronisten und anderem Personal jene Schwäche offenbar werden lassen wollen, die sie seit dem ersten Auftreten ihrer dunklen Ahnungen befallen hatte. Ihre Befürchtung war es gewesen, dass sie von diesen Eindrücken einfach übermannt werden würde.
Nathranwen trat neben die Königin und berührte sie leicht an der Schulter. »Es wäre nicht recht, der Elbenheit dieses Zeichen der Hoffnung vorzuenthalten, meine Königin. Ihr mögt mir verzeihen, dass ich dies von Euch vehement fordere, aber es ist alles verloren, wenn die Elben ihren Glauben an die Zukunft verlieren. Um die Trauer über den Tod ihres Königs zu verwinden, brauchen sie ein Zeichen der Hoffnung – und ihr tragt dieses Zeichen in Euch, also lasst die gesamte Elbenheit daran teilhaben und behaltet dieses Wissen nicht länger für Euch!«
Schweigen herrschte für mehrere Momente im Audienzsaal. Es war so leise, dass ein Elb selbst das Fallen eines Haares hätte hören können. Was Nathranwen gesagt hatte, war unerhört. Ruwen vermochte jedoch nicht, Nathranwen gegenüber Zorn zu empfinden, weil die Heilerin sie nun zwang, das Geheimnis ihrer Schwangerschaft kundzutun. Schließlich handelte Nathranwen nur aus den besten Motiven heraus. Ruwen hingegen erschien diese Offenbahrung, die sie nun nicht mehr umgehen konnte, wie ein Betrug an der Elbenheit. Sie entzündete damit ein Strohfeuer der Hoffnung, von dem sie doch im Innersten ihrer Seele wusste, dass es keinen Bestand haben und verlöschen würde.
Wie sehr wünschte sie, es wäre anders. Es wäre angesichts des furchtbaren Verlusts, den sie durch Keandirs Tod erlitten hatte, zumindest ein Trost gewesen, seinen letzten Sohn zu gebären, der dann vielleicht jene Hoffnungen erfüllte, die die Elben zunächst mit Magolas' und Andirs Geburt verbunden hatten. Auch wenn es König Keandir nicht ins Leben zurückholen konnte, so war sich Ruwen doch gewiss, dass es dem Eldran, zu dem er in der Zwischenzeit wohl geworden war, ein angenehmer Gedanke gewesen wäre, dass noch einmal ein Nachkomme das Licht der Welt erblickte, und diesmal einer, der weder Gefangener der Finsternis noch der Gefilde des rein Geistlichen war, sondern ein ganz normaler Elb, der dereinst König werden konnte.
» Warum willst du mich verschweigen?«, fragte eine Gedankenstimme in ihr.
»Eobal!«, murmelte sie. »Niemand wird dich verschweigen!« Und es war der Königin erst Augenblicke später bewusst, dass sie laut gesprochen hatte, sodass alle im Audienzsaal ihre für die Zuhörer kryptischen Worte vernommen hatten.
Eobal hatte bereits ein ausgeprägtes Bewusstsein, schon in diesem Stadium, ganz zu Beginn seiner Existenz. Aus diesem Grund hatte Ruwen ganz bewusst ihre Ahnungen vor ihm abgeschirmt, so gut ihr das möglich war.
»Es gibt einen dritten Sohn des Keandir«, sagte sie schließlich. »Ich trage ihn unter dem Herzen, und sein Name wird Eobal sein.«
»Wenn er sich Mühe gibt und schnell heranwächst, wird er die Elben vielleicht in die Zukunft führen können«, glaubte Ithrondyr.
Doch Ruwen sah keine Schicksalslinie, die dies möglich erschienen ließ, so sehr sie es sich auch wünschte.
Kean, o Kean, dachte sie, was ist nur mit dem Schicksal geschehen, dass du einst geschaffen hast? Wer hat dessen fest geknüpftes Netz so grausam
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