Elben Drachen Schatten
anrufen können, um jene Götter um Beistand und Hilfe zu bitten.
Aber die Götter sind nichts als kalte Geister, bar jeden Mitgefühls. Sie sind ohne Hass und ohne Liebe und ähneln eher abstrakten Prinzipien als irgendetwas Lebendigem. Strahlendweiß sind sie und so rein und schön, dass es selbst ein elbisches Auge nur blenden kann. Trost darf man sich von ihnen nicht erhoffen, ebenso wenig wie Hass, Rachdurst oder Eifersucht. Sie sind gleichgültig wie der Kosmos selbst, und es scheint ihnen sogar gleichgültig zu sein, wenn sich ihre Gläubigen von ihnen abwenden.
»Wie kommt's, dass Ihr ein Reich gewonnen und Eure Freude – so scheint's ― verloren habt?«, wandte sich Prinz Sandrilas einmal an den König.
»Weil ich an die Zukunft denke«, hatte Keandir mit gedankenverlorenem Blick geantwortet. »Eine Zukunft, die uns nicht gehören wird.«
Das Jüngere Buch Keandir
Branagorn aber hatte gesehen, wie die Finsternis in seinen Herrn und König gefahren war. Er war dabei gewesen, als das Böse von Keandir Besitz ergriffen hatte, und er wusste, dass es für immer zu einem Teil von Keandirs Seele geworden und sich untrennbar mit seinem tiefsten Selbst verbunden hatte.
Die Verbotenen Schriften
(früher bekannt als: Das Buch Branagorn)
1. Kapitel
Das neue Land
Die Flotte der Elben segelte Richtung Süden, die Küste entlang, die so unglaublich fruchtbar und einladend wirkte. Zum Großteil bestand sie aus Hochland, weshalb dieser Teil des Zwischenlandes später auch Hoch-Elbiana genannt werden würde. In der Ferne waren schneebedeckte Gipfel zu sehen. Aber davor prägten zumeist grüne Anhöhen und Hochwälder das Bild. Der Regenbogen spannte sich von den Hochmassiven bis weit auf das Meer hinaus.
Keandir stand am Bug des Flaggschiffs und blickte zusammen mit Ruwen hinüber zur Küste – so wie jeder andere Elb auch, der nicht gerade eine Aufgabe am Bord zu erfüllen hatte.
»Wie weit werdet Ihr die Flotte noch gen Süden segeln lassen?«, fragte Ruwen.
»Nicht weit.«
»Ihr wollt, dass sie das Land aus der Nähe sehen, nicht wahr? Das Volk soll dem Zauber erliegen, der von diesem Land ausgeht.«
»Ein paar wenige Seemeilen werden dafür genügen«, war Keandir überzeugt und legte lächelnd den Arm um Ruwens Schultern.
»Es wird dein Reich werden, Kean«, flüsterte sie und wechselte damit in die persönlichere Anredeform. »Niemand wird einen so großen Anteil an seiner Errichtung haben wie du. Und deinen Namen wird man in den Überlieferungen für immer damit verbinden, dass wir den Fuß auf den Boden dieses Kontinents setzten.«
»Es ist nicht mein Reich«, widersprach Keandir. »Es wird in erster Linie das Reich von Magolas und Andir werden, unseren Zwillingssöhnen.« Keandir seufzte. »Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – und das Reich nicht vor der Landung.«
»Du zweifelst noch?«, fragte Ruwen leicht überrascht.
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das nicht.«
»Sie werden dir folgen.«
»Die Meisten. Nur fragt sich, wie viele es nicht tun werden.«
»Das hängt von der Überzeugungskraft ab, die der Herrscher des zukünftigen Elbenreichs ausstrahlt«, meinte Ruwen. »Und was die Zuversicht betrifft, so hast du davon im Augenblick so reichlich, wie seit langem kein Elb mehr.«
»Ja, da mögt Ihr recht haben, meine Königin.«
Ruwen berührte ihren Bauch. »Und dies ist das Symbol dieser Zuversicht.«
»Auch diese Ansicht teile ich«, sagte er und legte seine Hand auf die ihre. Ruwens Augen leuchteten. Lange hatte man keine Elbenfrau so glücklich gesehen.
Keandir erwiderte ihr Lächeln, wenn auch etwas verhalten.
Und keiner von ihnen bemerkte das schwarze Etwas, das aus den Poren von Keandirs Hand drang – ein Etwas, das aussah wie ein Schwarm dunkler, winzig kleiner Fliegen oder wie aufgewirbelte schwarze Staubkörner, von denen allerdings jedes Einzelne seine Bestimmung und sein Ziel zu kennen schien.
Das Dunkle trat nur kurz hervor und verschwand sogleich in Ruwens Bauch. Für die wimmelnden kleinen schwarzen Teilchen bildeten weder das Gewand noch die Bauchdecke der Elbenkönigin eine Barriere. Nichts konnte sie aufhalten. Ein düsterer magischer Wille lenkte sie – der Wille eines Wesens, das nicht mehr existierte.
Tränen traten in Ruwens Augen. Aber es waren Tränen der Freude, die der Wind bereits trocknete. Keandir drückte seine Gemahlin an sich, und sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust, während er ihr zärtlich über das Haar
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