Elben Drachen Schatten
Aktivität verbringen mussten, um wenigstens ein paar ihrer bescheidenen Werke vollendet zu sehen. Wir Elben haben demgegenüber alle Zeit der Welt, Kean. Vergiss das nicht.«
»Nein, das nicht«, sagte Keandir, und seine Stimme bekam dabei einen harten, metallisch klingenden Unterton, der ihr früher nicht eigen gewesen war. Zumindest war er Ruwen nie aufgefallen. »Aber … es war immer ein Fehler, so zu denken, geliebte Ruwen. Wahrscheinlich hat es Menschen nie gegeben, doch die Legende will uns sagen, dass auch unsere Zeit endlich ist, dass auch wir eines Tages diese Welt verlassen und in den uns zu Verfügung stehenden Jahrhunderten Dinge schaffen müssen, die auch noch nach unserer Zeit Bestand haben. Wer glaubt, sein Dasein auf Erden würde niemals enden, steht irgendwann an der Reling eines Schiffes, gepeinigt vom Lebensüberdruss und einzig erfüllt von der Sehnsucht nach einem kalten Grab.« Er atmete tief durch, und sein Blick glitt über die umliegenden Anhöhen. »Wir hatten eine Ewigkeit Zeit«, fügte er schließlich hinzu, »doch wir haben diese Ewigkeit vertan, als wir uns in der Sargasso-See verloren.«
»Das hat niemand gewollt«, flüsterte Ruwen.
»Das mag sein. Aber es hatte auch niemand die Kraft, es zu verhindern. So etwas soll den Elben nicht noch einmal widerfahren. Zumindest jenen nicht, die sich in Elbiana niederlassen.«
Auf einmal bemerkte Ruwen den Schatten, der für einen kurzen Moment auf Keandirs Gesicht fiel. Ein Schatten, der ihr hätte vor Augen führen können, dass da neben dem neu erwachten Optimismus des Königs und seinem Tatendrang noch etwas war. Etwas Dunkles, das ihm erst seit seinem Aufenthalt auf der Insel des Augenlosen Sehers anhaftete.
Vielleicht weigerte sich Ruwen auch, das, was ihren feinen Sinnen eigentlich unmöglich entgehen konnte, zur Kenntnis zu nehmen. Zu verlockend war es, an die Verheißung zu glauben, welche die Vorstellung eines neuen Elbenreichs beinhaltete und deren Symbol die beiden ungeborenen Zwillinge unter ihrem Herzen waren.
Der Kronrat trat am Strand des neuen Landes zusammen. Neben uralten Würdenträgern wie Fürst Bolandor gehörten ihm auch die Kapitäne der größeren Schiffe und einige militärische Befehlshaber sowie Magier und Personen an, die sich auf vielfältige Weise um das Wohl des Elbenvolks verdient gemacht hatten. Manche genossen auch schlicht und ergreifend die Gunst des Königs oder galten ihm als gute Ratgeber.
Unverzichtbares Mitglied des Kronrates war auch Brass Elimbor. Er war noch älter als Fürst Bolandor, und sein Erinnerungsvermögen reichte in Zeiten zurück, über die selbst in den schriftlichen Überlieferungen keine Zeile mehr zu finden war. Brass Elimbors Gesicht war knochig und hager. Die Wangen wirken eingefallen, das Kinn war spitz, und zwischen Mund und Nase wuchs ein dünner Oberlippenbart, der kaum sichtbar war, da der Farbton der Haare dem blassen Weiß seiner durchscheinenden Haut entsprach, die von einem Mosaik aus unzähligen Falten überzogen war und ledern wirkte. Auf seiner Stirn trat eine blaue Ader deutlich hervor.
Im Gegensatz zu seinem Gesicht, das ein selbst für elbische Verhältnisse fast unvorstellbares Alter zeigte, wirkten seine Bewegungen überraschend geschmeidig und kraftvoll. Er trug keinerlei Waffen. Sein Gewand bestand nur aus einer grauweißen Kutte, die fast bis zum Boden reichte und deren Kapuze er häufig so tief in sein Gesicht zog, dass sein Antlitz im Schatten verborgen war.
Sein eigentlicher Name war Elimbor; Brass war der Ehrentitel für einen Schamanen, der Kontakt zu allen drei geistigen Sphären hatte: nach Eldrana, dem Reich der Jenseitigen Verklärung, nach Maldrana, dem Reich der Schattenelben, und zur Sphäre der Namenlosen Götter.
Zur Sphäre der Namenlosen Götter – die manche Elben auch als einen besonderen Bereich von Eldrana ansahen – hatte schon lange kein Schamane der Elben mehr Kontakt gehabt. Brass Elimbor war der Letzte, dem dies gelungen war, und schon daher war die Achtung, die man ihm entgegenbrachte, sehr groß.
In den letzten Jahrhunderten hatte sich Brass Elimbor stark zurückgezogen. Er hatte den Kontakt zu seiner Umgebung auf ein Minimum reduziert. Während der Fahrt durchs Nebelmeer hatte er die Nahrungsaufnahme so stark vermindert, dass manche schon befürchteten, der uralte Elb stünde kurz davor, nach Eldrana einzugehen, und die gesamte Heilerzunft hoffte bereits, endlich einmal den natürlichen Tod eines Elben miterleben zu
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